Dominus, quid multiplicati sunt — Ps. III

Das Bild zeigt eine berittene Kriegerschar, die durch vom Himmel regnende Steine und Felsen zerschmettert wird.

„Mein Gott, bring mir Hilfe - denn all meinen Feinden hast Du den Kiefer zerschmettert.“ (Ps. 3; 8)

Dieser Psalm ist in den meisten Versionen der erste, der eine Überschrift hat. Sie lautet: „Ein Psalm Davids, als er vor seinem Sohn Absalom floh.“ Über zwei Jahrtausende lang haben Synagoge und Kirche diese Überschriften mehr oder weniger wörtlich genommen und als irrtumsfreie Aussagen der inspirierten Schrift gelesen. Das ist so nicht haltbar. Schon die großen Unterschiede bei den Überschriften zwischen der (älteren) griechi­schen und der mindestens ein halbes Jahrtausend jüngeren masoretischen Fassung sind ein starkes Indiz.

Die Überschriften sind den Psalmen irgendwann im Lauf ihrer langen Überlieferungs­geschichte „zugewachsen“; sie haben im Rahmen des Psalmenwerkes eine ähnliche Funktion wie die „typologischen“ Lesarten vieler Passagen des alten Testaments. Tatsächlich sind Aussagen und Charakter der Psalmenüberschriften in der hebräischen und der griecheischen Überlieferung des Psalters ziemlich verschieden, weitaus verschie­dener als die eigentlichen Texte, die offensichtlich älter sind als die Überschriften. Sie verbinden Textpassagen und Aussagen quer durch die Zeiten, eröffnen Interpretationen und Einblicke und gehören von daher mit zum geistgewirkten Ganzen des Buches, ohne damit Anspruch auf wörtliche historische Korrektheit erheben zu können.

Das gilt auch für die Autorennennung vieler Überschriften. Kein Psalm läßt sich eindeutig auf eine Dichtung des ersten Königs von Juda im 11. Jahrhundert vor Christus oder einen anderen der genannten Autoren zurückführen, die meisten haben ihre überlieferte Form nachweislich wesentlich später erhalten. Die älteren wohl in der sogenannten „späten vorexilischen Zeit“ des 6. und 7. Jahrhunderts, jüngere während und nach dem Exil bis ins dritte vorchristliche Jahrhundert. Andererseits ist es aber sehr wohl möglich, daß einzelne Passagen durchaus in frühe Zeit zurückreichen, bis in die Epoche Davids und vielleicht sogar zu seiner Person. In einigen Psalmen (z.B. Psalm 28/29) hat man Elemente ausfindig gemacht, die in quasi vor-abrahamitische Zeit Kanaans zurückführen. Das Wort Gottes im Buch der Psalmen hat seine eigene höchst komplizierte „Inkarnationsgeschichte“. Es ist nicht fix und fertig vom Himmel gefallen, sondern seine irdische Gestalt ist nach göttlichem Plan gewachsen und hat sich entwickelt aus und in dem Material, das die Welt ihm bot.

Es ist leicht einsichtig, daß die hier nur gestreiften Fragen viele Wissenschaftler der verschiedenen theologischen, sprachwissenschaftliche und altertumswissenschaftlichen Fachrichtungen zu intensiven Forschungen und zur Produktion zahlloser Bücher unterschiedlichster Qualität geführt haben. Für den schlichten Beter der Psalmen, der nichts anderes will als sich einreihen in das Gebet ungezählter Generationen vor ihm, ist das meiste davon entbehrlich – wenn er nur ein paar Grundregeln des Verständnisses berücksichtigt. Psalm 3 ist ein gutes Beispiel, einige davon kennenzulernen.

Der Psalm ist das Bittgebet eines Menschen, der sich in einer fast ausweglosen Notlage befindet. Zu seiner Entstehungszeit mag das eine sehr körperlich-materielle Situation gewesen sein: Ein Familienhaupt, umgeben von feindlich gesinnten Nachbarn oder attakiert von Räuberbanden. Oder eben der junge David, der nach den Erzählungen im Buch Samuel einen guten Teil seines Lebens auf der Flucht vor seinem Vorgänger Saul oder seinem Erben Absalom war. Heutige Notlagen sind oft subtiler, aber die in den ersten drei Zeilen (nach der Überschrift) angedeutete Situation ist auch unter modernen Bedingen leicht nachvollziehbar. Bis hin zu dem in Vers 3 angedeuteten Umstand, daß die Gegner sich im Recht sehen – dem der Beter dann sein Gottvertrauen entgegensetzt.

Die zweite Strophe (5-7) führt dieses Gottvertrauen dann in der für die Psalmen typischen Weise näher aus: Kaum hat der Beter, der sich sicher ist, auf dem vom Wort (und dem Gesetz!) des Herrn vorgezeichneten Weg zu wandeln, sein Gottvertrauen hinausgerufen, erlebt er auch schon die Erfüllung seines Gebetes. Eine Gewissheit, die uns Heutigen in dieser Form eher schwer fällt. Die hier vorausgesetzte Erfahrung des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem Tun des Guten und dem eigenen Wohlergehen ist nicht mehr gegeben und nicht mehr nachvollziehbar – und gerade deshalb bietet die Strophe anlaß zu einer Gewissenserforschung und zu selbstkritischer Reflektion, wie weit man denn selbst gewiss sein kann, auf dem rechten Weg zu gehen.

Die letzte Strophe wiederholt und verstärkt diese Gewissheit der Erfüllung in heute brutal und „unzumutbar“ anmutenden, Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends aber durchaus zeitgemäßen Bildern von zerschmetterten Kiefern und zerbrochenen Zähnen – im Hebräischen deutlicher als in der Septuaginta. Tatsächlich signalisiert diese Sprache sogar eine Abschwächung des Bildes einer kriegerischen Auseinandersetzung, das am Schluß der zweiten Strophe beschworen wurde. Nach der urtümlichen Vorstel­lung, daß die Strafe den Übeltäter da ereilt, wo und womit er gesündigt hat, erscheinen die durch Gottes Hilfe abgewehrten Feinde nun weniger als Krieger, sondern eher als Maulhelden, als Verleumder, die dem verfolgten Gerechten nicht mit Speeren und Schwertern, sondern mit Lügen und übler Nachrede zugesetzt haben und dafür bestraft und unschädlich gemacht worden sind.

Das ganze Spektrum dessen, was Menschen einander antun können, ist angesprochen – was es dem heutigen Beter zweifellos erleichtert, sich mit dem Beter der Entstehungszeit des Psalms zu identifizieren. Und, wie in den Gedanken zur zweiten Strophe angedeutet, darüber auch hinaus zu gehen. Das individuelle Gewissen in der Form, wie wir Christen es kennen, hat zwar seine Wurzeln bereits im Glauben des Alten Testaments, läßt aber die dort aufscheinenden Vorformen ein gutes Stück hinter sich.

Der letzte Vers der ohnehin (wie bei vielen Psalmen) verkürzten letzten Strophe öffnet in charakteristischer Weise den Blick des Beters über die individuelle Situation hinaus auf das ganze Volk Gottes, auf Israel im alten und die Kirche im neuen Bund: „Beim Herrn findet man Hilfe. / Dein Segen komme über Dein Volk!“

Letzte Bearbeitung: 18. März 2024

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