Dixit insipiens — Ps. LII (53)
„Alle sind sie abtrünnig und verdorben, keiner tut Gutes, kein Einziger“ (52; 4).
Dieser Psalm stimmt bis auf wenige Abweichungen, die bereits dort behandelt wurden, mit der „modernisierten Fassung“ von Psalm 13 (14) überein. Deshalb wird #52 auch vielfach als eine leichte Überarbeitung bzw. Aktualisierung von 13 angesehen – wenn nicht sogar als direkte Doppelung. Für den wesentlichen Inhalt trifft das auch zweifellos zu. Hier sollen nur die wenigen Abweichungen kurz erwähnt werden, denen eine weiterreichende Bedeutung abzugewinnen ist.
An erster Stelle steht dabei ein unterschiedlicher Umgang mit dem Gottesnamen. Psalm 13 verwendet durchgängig den persönlichen Gottesnamen Yahweh, während #52 ausnahmslos von Elohim spricht – also den allgemeinen Begriff für „Gott“ verwendet. Die Übersetzungen des Altertums und teilweise auch der Gegenwart ahmen das mit den Mitteln ihrer Sprachen nach.
Wie schon gelegentlich angesprochen, ist das ein durchaus signifikanter Unterschied: Der Gebrauch des persönlichen Namens ist Ausdruck einer direkteren Beziehung zu Gott, der quasi als Sippen- oder Stammesmitglied vorgestellt wird. Was unter anderem nicht ausschließt, daß andere Stämme andere Götter haben, deren Existenz man nicht bestreiten muß – mit ihnen hat man nichts zu tun. Vielfach wird angenommen, daß der auf die frühesten Zeiten zurückgehende persönliche Name „dieses unseren Gottes“ aus der Übergangsepoche zwischen urwüchsigem Polytheismus und dem später unter dem Einfluss der Offenbarung erworbenen Monotheismus stammt.
Vieles, was wir über die Glaubensüberzeugungen des alten Israel wissen oder zumindest begründet vermuten, läßt sich nur verstehen, wenn man annimmt, daß das Volk oder zumindest einzelne seiner Teile jahrhundertelang in einer Grauzone zwischen diesen beiden Gottesbildern verharrte. Das erschließt sich eindeutig aus vielfach vorkommenden Geboten wie „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ oder „Für dich gibt es keinen anderen Gott“. Jahwe ist der große und der einzige Gott Israels – aber nicht notwendig der einzige Gott in einer stärker bevölkerten übernatürlichen Welt.
Die Gelehrten streiten sich darüber, wann der endgültige Übergang zum strengen Monotheismus mit der Anerkennung Jahwehs als des einzigen Gottes, Schöpfers des Himmels und der Erde und Herr aller Völker in dieser und der anderen Welt, erfolgt ist. König Josia im späten 7. Jh. vor Christus sah jedenfalls vielerlei Anlaß mit seinen Reformen gegen die in den verschiedensten Formen verbreitete Abgötterei, Baumverehrung und Zauberkunst im Lande vorzugehen. Die Archäologen haben im Boden Jerusalems Hunderte von Figuren der alten Lebensgöttin Ascherah ausgegraben – mit dem Übergang zum 6. Jahrhundert bleiben die Ausgrabungsschichten leer.
Spätestens zur Zeit der Fertigstellung des Psalters um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert war der Polytheismus im wesentlichen überwunden, und die „Neuen Theologen“ der Zeit, denen der persönliche Name des alten Stammesgottes quasi nicht „koscher“ genug war, gingen daran, dessen Erwähnung zurückzudrängen und womöglich durch das zeitgemäßere „Elohim“ (wörtlich etwa „Göttergott“) zu ersetzen. Bei einer Kultur, die jedes Jota ihrer heiligen Schriften verteidigte, war das kein leichtes Vorhaben, der Erfolg war begrenzt, und deshalb finden wir in vielen Büchern der Bibel nebeneinander Abschnitte, die einmal aus einer als „jahvistisch“ bezeichneten Tradition hervorgehen und andere, die als „elohistisch“ bezeichnet werden. Da gibt es viele Hypothesen und Unklarheiten, aber Tatsache ist, daß auch im Psalter eine solche – möglicherweise durch nachträgliche Redaktion verstärkte – Zweiteilung vorgefunden werden kann: Die ersten 40 Psalmen (nach der Einleitung sind das die Nummern 3 bis 42) verwenden fast ausschließlich den persönlichen Namen „Yahweh“, die nächsten 40 dann mit wenigen Ausnahmen den Begriff „Elohim“.
Psalm 52 gilt neben einigen anderen als Hinweis darauf, daß diese Zweiteilung bei gleichem Zahlenverhältnis durch eine redigierende Hand zumindest verstärkt und verdeutlicht worden ist: Danach wäre die zunächst „jahvistische“ Fassung dieses Psalms aus den „ersten 40“ bei der für die „zweiten 40“ erfolgten Aktualisierung im „elohistischen“ Sinne überarbeitet worden.
Daß es eine solche Überarbeitung gegeben habe, wird unter anderem daraus geschlossen, daß #52 in einigen Formulierungen wesentlich konkreter formuliert als #13.
Um die Psalmen ehrfürchtig und „mit Gewinn“ beten zu können, muß man das vermutlich nicht wissen. Aber es hilft gerade dem aufmerksamen Beter, der das Wort der Schrift ernstzunehmen versucht, einiges von der Hintergründigkeit zu erahnen, die nicht nur beim Psalmenpaar 13 – 52 aufzuzeigen wäre. Das Wort der Heiligen Schrift und damit auch die Dichtung des Psalters ist weder alleine das Werk menschlicher Hände, noch ist es bis ins letzte Jota fix und fertig vom Himmel herabgesandt worden. So wie das Wort Gottes „Fleisch“ angenommen hat, hat es in einem ebenso komplizierten Vorgang „Sprache“ angenommen – es ist „organisch“ mit und aus dem Weltverständnis der Menschen seinr jeweiligen Zeit herausgewachsen.
Und anders als die Gottesmutter Maria, die durch Ihre Ausnahme aus dem Tun-Ergehen-Zusammenhang der Erbsünde in besonderer Weise drauf vorbereitet und dazu befähigt war, das Wort Gottes zur Welt zu bringen, hatten die Chronisten und Dichter der heiligen Schrift kein solches Privileg. Wie alle Menschen sind auch sie oft genug „abgeirrt und nutzlos geworden“ (Psalm 42, 5). Die Spuren dessen sind ihrem Werk immer wieder anzumerken, und wäre nicht der Geist Gottes mit ihnen gewesen, wäre von ihren Schriften wohl nicht mehr geblieben als die zerfallenden Tontäfelchen und Stelen der Götter ihrer Nachbarvölker.
Letzte Bearbeitung: 11. April 2024
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