Cum venissent Ciphei — Ps. LIII (54)
„Starke Feinde trachten mir nach dem Leben“ (53; 5)
Wie der Vorgänger gehört Psalm 53 zu den sogenannten „Davidpsalmen“ – von denen wir generell nicht wissen, in welchen Teilen oder ob überhaupt sie bis in die Zeit des ersten Königs von Juda zurückgehen. Und wie der vorhergehende wird auch dieser Psalm durch die Überschrift einer ganz bestimmten Episode aus dem Leben Davids zugeschrieben – eine Zuschreibung, für die der Inhalt keinen fassbaren Anhaltspunkt liefern kann. Diese Psalmüberschriften, die zum Teil in der hebräischen und der griechischen Tradition stark voneinander abweichen, sind ohnehin ein sehr schwieriges Thema. Einiges deutet darauf hin, daß bereits die Verfasser der Septuaginta viel von dem, was die Überschriften sagen wollten, nicht mehr verstanden haben, und ob die Bedeutung, die die Jerusalemer Juden dieser Zeit den Überschriften zulegten und später in der Kommentarliteratur verfestigten, die „richtige“ ist, steht auch dahin.
Die meisten Davidspsalmen behandeln allgemeinmenschliche Situationen – wobei man sich freilich darüber im Klaren sein muß, daß „allgemeinmenschlich“ im alten Orien des ersten vorchristlichen Jahrtausends recht verschieden war von dem, was wir heute unter diesem Begriff fassen. Vermutet man den Ursprung der Davidspsalmen im Wesentlichen in der ersten Hälfte dieses Jahrtausends, dann muß man für Israel von einer Stammesgesellschaftausgehen, die immer wieder von Machtkämpfen zwischen den großen Familien zerrissen war. So beschreiben es das Buch der Könige und die anderen Quellen für die Davidszeit, und die meisten Davidspsalmen fügen sich diesem Panorama perfekt ein. Der Sänger sieht sich von Feinden umgeben, die ihm „grundlos“ nach dem Leben trachten. In seiner Not schreit er zu Gott, als dessen stets treuer Gefolgsmann er sich sieht, auf dessen Hilfe er ein Anrecht zu haben glaubt – und Gott erfüllt die Hoffnung des Rufers und reißt ihn heraus aus all seinen Nöten.
Exakt so in Psalm 54. Die erste Strophe (Vers 3 – 5) enthält die Anrufung Gottes und die (hier sehr kurz geratene) Schilderung der Notlage: Stolze Menschen haben sich gegen mich erhoben. Ein zweiter Teil (Verse 6 und 7) bringt die Gewissheit des Beters zum Ausdruck, daß Gott seinem Getreuen treu bleiben wird. Dem folgen die beiden Schlußzeilen, in denen nach der Grammatik nicht ganz klar ist, ob der Sprecher/Beter dem Herrn ein Dankesopfer verspricht, falls er gerettet wird – oder bereits gerettet ist und ankündigt, das Dankopfer zu bringen. Die Einheitsübersetzung (1980) scheint mit einem eingeschobenen „dann“ die erste Variante zu bevorzugen, die Version von 2016 läßt dieses „dann“ weg und kommt so eher zur zweiten.
Es ist ungewiß, ob der jüdische Beter der Mitte des ersten Jahrtausend einen Unterschied oder gar Gegensatz zwischen diesen beiden Varianten empfunden hat. Das Gefüge von Verhalten und Ergehen, von Handlung und Vergeltung war nicht so „durchrationalisiert“ wie im durch die griechisch-römische Antike geprägten Denken des Abendlandes, es kannte weniger die klar unterscheidbaren Stränge vorn Ursache und Wirkung, sondern betrachtete die Zusammenhänge eher in ihrer Ganzheit. Darin dürfte auch der Grund dafür zu sehen sein, daß in vielen Psalmen – auch hier ist es ähnlich – der Dank für die von Gott erwiesene Hilfe unmittelbar und im gleichen Satz auf die Bitte folgt.
Eine ähnliche Unschärfe kann man im der umfänglichen Überschrift folgenden eigentlichen Anfangsvers 3 erkennen, wo man das Hebräische, das hier eine sehr allgemeine Universalpräposition verwendet, sowohl als „in Deinem Namen“ als auch „durch Deinen Namen rette mich“ lesen kann. Bei „durch“ erscheint der Name selbst zumindest andeutungsweise als ausführendes oder gar handelndes Element, bei „in“ ist ganz klar Gott der einzig handelnde. So könnte das „durch“ einen Anklang an früheres magisches Denken enthalten: Die Beschwörung der Gottheit durch Nennung/Aussprechen ihres Namens, wie es im ersten Gebot des Dekalogs streng verboten wird: Du sollst den Namen Deines Gottes nicht mißbrauchen! Die griechische und lateinische Überlieferung (mit en bzw. in) läßt dieser Unschärfe wenig Raum – die deutsche Einheitsübersetzung stellt sie mit „durch“ wieder her, und es bleibt offen, ob das ein Gewinn oder ein Verlust ist.
Generell sprechen solche Unschärfen im Ausdruck oft für ein hohes Alter des jeweiligen Textes. Man kann aber auch nicht ausschließen, daß ein sprachlich versierter Redakteur – und diese Schriftgelehrten waren teilweise sehr versiert – die Unschärfe gezielt als Stilmittel einsetzte, um dem Text einen altertümlichen Klang zu verleihen. Doch das eher als Randbemerkung.
Die frühen christlichen Erklärer, die zwar oft in unruhigen Kriegszeiten lebten, aber wohl keinen rechten Begriff mehr von den innerfamiliären und stammesmäßigen Kleinkriegen hatten, die das Leben im alten Israel oft schwer erträglich machten, haben die „stolzen Menschen“ (Vers 5), die sich gegen den Beter erheben, schon früh als Chiffre für die Dämonen und teuflischen Kräfte gedeutet, die ja nicht nur einfach so dem „Leben“ (anima) der Menschen nachstellen, sondern auch deren Seele (ebenfalls anima). Das ist höchst wahrscheinlich im ursprünglichen Verständnis des Textes so nicht enthalten, kann aber das betende Verständnis dieser Art von Psalmen wesentlich erleichtern. Und einer Gegenwart, in der die öffentliche Rede in vielem wie von dämonischen Kräften diktiert erscheint, ist dieses Verständnis überaus angemessen.
Letzte Bearbeitung: 11. April 2024
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