Exaudi, Deus — Ps. LIV (55)

Im Hintergrund ragt mächtig der Fast vollendete Turmbau auf - im Vordergrund ringen die Einwohner Babylons verzweifelt die Hände, weil sie sich nicht mehr verständigen können. Dazwischen entfaltet sich Chaos auf der Baustelle.

„Entzweie sie, Herr, verwirr ihre Sprache“ (54; 10)

Dieser David nur ganz allgemein zugeschriebene – wohl um die Reihe nicht zu unterbrechen – Psalm zeichnet in den Versen 2 – 9 zunächst den Gemütszustand und die Weltsicht eines Verfolgten, der sich rundum von Zwietracht und Feinden umgeben sieht. Am liebsten würde er in die Wüste fliehen – sonst nicht gerade als gastlicher Ort gesehen. Das Ganze ergibt das Bild eine Situation, in der sich wohl viele Einwohner Israels um die von Krieg und inneren Auseinandersetzun­gen geprägte Mitte des Jahrtausends vor Christi Geburt wiedererkennen konnten.

Schon in diesem ersten Teil wrid dadurch, daß die Bedrohung mal im Singular und mal im Plural auftritt, angedeutet, daß hier nicht nur von der individuellen Notlage oder Katastrophe eines Einzelnen die Rede ist. Die Straßen und Märkte der Stadt sind von Streit und Verbrechen, Lug und Betrug erfüllt (10 – 12, 16) – das ganze Genmeinwesen ist in Unruhe und Aufruhr. Dazu kommt dann noch eine ganz niederschmetternde persönliche Erfahrung: Auch von einem Freund, einem Vertrauten sieht sich der Klagende verraten und verkauft (13 – 15) , das Elend bricht aus allen Richtungen über ihn herein, und die gequälte Seele wünscht alle und alles ringsum in die Hölle.

Dieser ungewöhnlich drastischen Schilderung von Not und Verzweiflung – die übrigens ohne die sonst gerne gebrauchten Bildern von Kriegen und Kampf auskommt – folgt dann im zweiten Teil (17 - 24) ganz konventionell das Gebet zu Gott mit dem Ausdruck der sicheren Hoffnung auf Erhörung. Nicht oihne eine Unterbrechung in den Versen 21 und 22, in denen noch einmal die bundesbrüchigen Feinde des Herrn und der Feind mit seinen Trügerischen Worten auftauchen - in der Mehrzahl und in der Einzahl wie schon in der ersten Hälfte.

Dem folgen zwei Schlußverse (23 + 24) in einer von manchen Bearbeitern als unbefriedigend empfundenen Reihenfolge. Das hat z.B. die Einheitsübersetzer von 1980 dazu bewogen, diese Reihenfolge umzukehren – während die von 2016 wieder zu der in der griechisch lateinischen Tradition und wohl auch den meisten hebräischern Quellen erscheinenden Reihung zurückgekehrt sind.

Der Grund für diese Umkehrung ist, daß der Originalvers 23 mit seiner geradezu sprichwort-tauglichen Allgemeinaussage „Wirf deine Sorge auf den Herrn , er wird dich erhalten“ in der Tat für unser modernes Empfinden einen „besseren“ Schluß abgibt als der überlieferte Schlußvers. Einen wirklich überzeugenden Grund für die Umkehr kann das freilich nicht abgeben. Auch die überlieferte Verfolge kann durchaus sinnvoll gelesen werden, und die zweite Hälfte von (Original)Vers 24 bietet auch einen schönen und in die Gedankenwelt der Psalmen passenden Schlußgedanken: Mörder und Betrüger erreichen nicht die Mitte ihres Lebens!.

Einen interessanten Gedanken zur Begründung der überlieferten Textreihenfolge bieten hier Erich Zenger und seine Schüler. Sie ziehen diese Allgemeinaussage an vorletzter Stelle noch in den Kontext des vorhergehenden Verses und lesen sie als Wiedergabe eines der Trugworte „linder als Öl“ von Seiten der Feinde, als deren in ironischer Absicht gemachten Zuruf an den Beter, ganz ähnlich der Schilderung von Psalm 21, Vers 8 und 9, wo die Spötter rufen: „Er wälze die Last auf den Herrn!“. Das ist sicher ein sehr schöner Gedanke – aber die Textüberlieferung gibt dafür keine wirklichen Anhaltspunkte. Wir müssen wohl einfach damit leben, daß die Dichter der Psalmen und die Beter in ihren Gemeinden manchmal eine andere Vorstellung von der rechten Ordnung eines Gedankenganges hatten als wir Heutigen.

Das sollte gerade bei Psalm 54 keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten, denn im großen Zusammenhang gelesen zeichnet dieser Psalm das Bild einer aus den Fugen geratenen Welt voller Lüge und Verrat, das bestürzende Parallelen zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts aufweist. Die grammatischen und inhaltliche Sprunghaftigkeit wird in der Textkritik vielfach als Anzeichen für Überlieferungsprobleme gewertet und gibt dann den Anlaß zu unterschiedlichen „Emendationen“ des Textes, bis er der Liebklingstheorie des jeweiligen Autors entsprucht. Das kann man so machen – einen zwingenden Grund dafür sehen wir jedoch nicht.

Letzte Bearbeitung: 11. April 2024

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