Miserere mei — Ps. LV (56)

Abraham und sein Sohn Isaak besteigen den Berg zur Darbringung des Gott geschuldeten Dankopfers

„Gott, ich schulde Dir mein Gelübde und will Dir das Dankopfer weihen“ (55; 13).

Die in der Überschrift vorgenommenen Zuschreibung zu König David und einer bestimmten Episode in sei­nem Leben ist wie bei den anderen Liedern dieser Reihe historisch in keiner Weise belegt. Die Überlie­fe­rung dieses Psalms ist in allen Sprachversionen mit Unsicherheiten behaftet, es ist kaum möglich, „besser verständliche“ Verse aus der einen Tradition zur Auf­hel­lung von Schwierigkeiten in einer anderen heran­zuziehen. Vieles bleibt einem präzisen Verständnis verschlossen. Wer will, mag darin einen Hinweis auf ein hohes Alter des Liedes sehen – sicher ist das nicht. Poetische Sprachbilder aus der einen Tradition mögen schon nach kurzer Zeit in einer anderen Tradition nur noch schwer oder gar nicht mehr verständlich gewesen sein.

Der heutige Beter, dem all dieses fern steht, tut gut daran, sich nicht in den Feinheiten von Detailinterpretationen zu verheddern, sondern sich an die großen Linien zu halten, die trotz aller Probleme durchaus erkennbar sind.

Die erste Strophe (Vers 2 – 5) schildert die Situation aus zwei gegenläufigen Perspekti­ven: Ununterbrochen sieht sich der Beter von nicht näher bezeichneten Feinden verfolgt und gepeinigt – dem setzt er ein erprobtes und unerschütterliches Gottvertrauen entgegen. Auch die zweite Strophe (Vers 6 – 9) bleibt in dieser Gegenläufigkeit: Sie spricht zunächst vom Vorgehen der Feinde: Worte verdrehen, Schritte beobachten, nach dem Leben trachten – wobei es unklar bleibt, ob es um einen Rechtsstreit oder kriegerische Auseinandersetzungen geht. Doch in jedem Fall gilt, daß Gottes Zorn die in großer Zahl (populos) auftretenden Frevler vernichten wird – denn Gott hat das von ihnen verursachte Leid und ihre Untaten aufgezeichnet.

Die Einheitsübersetzung zieht hier nach einer im hebräischen Text möglichen Interpretation den Vers 10 noch mit in diesen Zusammenhang und kommt so zu einem allerdings etwas verwirrenden Ergebnis. Die westliche Tradition läßt mit Vers 10 einen neuen Gedanken einsetzen, der das vorherige erklärt: Die Vernichtung oder Unschädlichmachung der Frevler entspricht dem von Gott gegebenen Verrsprechen, wer ihn anruft, kann seiner Hilfe gewiss sein. Die folgenden Verse führen diesen Gedanken weiter und enden schließlich mit dem Versprechen eines Lob- und Dankopfers. Dieses Opfer bleibt nicht auf einen einmaligen Akt im Tempel beschränkt, sondern scheint darüber hinausgehend einen gottgefälligen Lebenswandel des Beters in seinem zukünftigenLeben zu versprechen: Denn dazu hat der Herr seinen Getreuen vor dem Unheil bewahrt.

So ergibt sich ein dreigliedriger Aufbau: Schilderung einer existenzbedrohenden Notlage; Aussage der Gewissheit der Rettung durch Gottes Gerechtigkeit und Versprechen, sich für die Errettung nicht nur durch ein (einmaliges) materielles Opfer sondern durch (dauernden) gottgefäligen Lebenswandel zu bedanken. Gott rettet hier also nicht aus allgemeiner Menschenfreundlichkeit sondern besonderer Verbindung zu Seinem Volk, sondern um die von den Übeltätern mißachtete Ordnung zu wahren und es den Seinen zu ermöglichen, daß sie „ohne Furcht und aus der Hand ihrer Feinde befreit ihm dienen“, wie es dann später bei Lukas im Canticum Zachariae zusammengefasst wird. Die christliche Lesart des Psalms sieht in den Feinden und Verfolgern Dämonen, die der Seele des Frommen nachstellen und sie verderben wollen. Anzeichen dafür, daß dieses Verständnis auch schon in vorchristlicher Zeit zumindest als Unterton gegeben war, sehen wir hier nicht, können es aber auch keinesfalls ausschließen.

Letzte Bearbeitung: 11. April 2024

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