Si vere utique — Ps. LVII (58)

Im dunklen Vordergrund die Fliehende Familie Kanaans - dahinter im Licht der ihn verfluchende Noah.

„Sie sollen vergehen, wie verrinnendes Wasser, wie Gras, das verwelkt auf dem Wege“ (57; 8)

Dieser Psalm ist der vielleicht prominenteste Vertreter der sogenananten Fluchpsalmen, deren Erklärung seit Alters her mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Paul VI. erschienen einige davon, nämlich die Num­mern 57, 82 und 108, als so schwierig, daß sie auf seine ausdrückliche Anordnung hin und gegen den Rat fast aller Fachleute sogar aus dem Stundengebet der Kirche gestrichen wurden. Bei immerhin 19 anderen an­de­ren gab er sich mit der Tilgung einzelner Verse zufrieden. Beides ein unerhörter Gewaltakt, der wie wenige andere die Hybris einer Moderne offen­bart, die sich weigert, um das Verständnis der doch sämtlich als „Wort Gottes“ überlieferten Bibelstellenzu ringen, wo diese allzusehr im Widerspruch zu den Empfindsamkeiten unserer Zeit zu stehen scheinen.

Freilich haben diese Empfindsamkeiten ihre historischen Vorbilder: Die griechische Tradition, in der kultivierten Weltstadt Alexandria entstanden, enthält in einigen Versen bereits auffällige Milderungen gegenüber der hebräischen Überlieferung, die noch erkennbar in der kriegerischen und oft blutrünstigen Tradition des alten Orients verwurzelt ist. Umso leichter hätte es Paul VI. eigentlich fallen können, den Text der Vulgata bzw. darauf beruhende Übersetzungen für das Brevier beizubehalten – aber nein, seine Empfindsamkeit ging noch über die der Alexandriner hinaus: Weg damit aus unserer Tradition, was uns unbequem ist.

Zum Psalm selbst. Er wird durch die Überschrift und die ersten beiden Verse in die Reihe der Davidpsalmen eingeordnet – genau so wenig belegt wie alle anderen dieser Art. Tatsächlich erscheinen die ersten beiden Verse (2 und 3) wie ein Vorspruch, der das folgende „Fluchgebet“, wenn der Ausdruck erlaubt ist, in einen zivilisierteren Zusammenhang einordnen. Sie enthalten einen Appell an die Herrschenden, an die berufenen „Richter“ über die menschlichen Angelegenheiten, sich an die ihnen von Gott vorgegebene rechte Ordnung zu halten. So ist es wohl zu verstehen, daß sie im hebräischen Text als „Söhne Adams“ bezeichnet werden – in Septuaginta und folgenden weniger bildhaft als „Menschensöhne“ übersetzt. Diese Vertreter der Ordnung Gottes auf Erden haben diesen Auftrag vielfach verraten, ihr Sinn ist verdorben, und sie wirken Unrecht.

Der folgende zweite Teil (4 – 12) enthält dann die eigentliche Beschreibung der Bösen und die Bitte um ihre Bestrafung – inwieweit hier die zunächst angesprochenen ihr Amt mißbrauchendes Menschenherrscher mitgemeint sind, bleibt unseres Erachtens offen. Wahrscheinlicher erscheint wegen des ganzen sprachlichen Duktus und der dabei verwendeten Bilder, daß dieser Teil auf sehr alte Vorstellungen zurückgeht – sie könnten tatsächlich aus der Zeit Davids oder sogar noch davor stammen. Sie erscheinen noch unbeeinflußt von den humanisierenden und zivilisierenden Tendenzen des mosaischen Gesetzes, das, so gewöhnungsbedürftig in heutiger Perspektive der Gedanke sein mag – Gesetz und eine Art Rechtsstaatlichkeit an die stelle naturwüchsiger Gewaltanwendung setzte. Die Bösen – und alles deutet daraufhin, daß damit keine „Fremden“ gemeint sind, sondern sie dem gleichen Voklk und Stamm angehören – sind von Natur aus (vom Mutterleib an) böse – was in dieser Schärfe u.W. zumindest in den Psalmen sonst nirgendwo behauptet wird. Mit ihnen gibt es nichts zu reden oder gar zu diskutieren – ihre Ohren sind verschlossen wie die der Schlangen, die nicht auf die Beschwörungen des Zauberers hören, und wie die Schlangen verspritzen sie ihr Gift und beißen zu, weil das nun eben ihre Natur ist. So wie es in der ebenfalls aus dem Orient stammenden Fabel vom Skorpion und dem Frosch, der ihn über den Fluß tragen will, die Natur des Skorpions ist, den Träger zus techen – selbst wenn es für beide den Tod bedeutet.

Auch die positive (?) Erwähnung des Beschwörers spricht für ein hohes Alter des Textes – die Geisteswelt Altisraels war mit vielerlei Aberglaube erfüllt, und viele Passagen des AT sind der Aufgabe gewidmet, Aberglauben und magische Praktiken zurückzuweisen. Was auch in den Psalmen nicht immer gelingt, in denen immer wieder Vorstellungen durchscheinen, die einen Zusammenhang mit Orakeln oder Gottesurteilen nahelegen.

Der verbalen Ausstoßung aus der menschlichen Gemeinschaft folgen dann in den Versen 7 – 10 die eigentlichen Verwünschungen: Der Herr möge ihnen die Zähne – das Mordwerkzeug des Löwen – im Munde zerbrechen, sie sollen vergehen wie Wasser, das im Sande verrint, wie Wachs, das in der Hitze zerschmilizt, und nie wieder sollen sie das Sonnenlicht schauen. So die griechische Version – die mit vielen sprachlichen unsicherheiten behaftete hebräische Version kommt wesentlich archaischer daher: Auch hier ist vom verinnenden Wasser die Rede, doch dann sollen die Bösen verwelken wie Gras, das auf den Wegen zertreten wird, zerfließen wie Schnecken, die sich in Schleim auflösen, und wie eine Fehlgeburt niemals die Sonne erblicken.

Das sind harte Worte – und genau das spricht dafür, daß sie tatsächlich einmal so oder sehr ähnlich gesprochen worden sind, als der Unterschied zwischen Gebet und Fluch noch nicht so befestigt war wie in späteren Zeiten. Das Gebet des auserwählten Volkes und später der Kirche ist unter der Führung des Geistes gewachsen aus dem, „was da war“, und wenn uns heute diese Erbschaft peinlich ist wie der Brudermord Kains an Abel, dann kommt das auch aus dem Widerstreben, sich den Abgründen der eigenen Seele zu stellen. Aber ihren Untiefen entgeht man damit doch nicht wirklich, wie jede Videoreportage aus einem Krieg des 21. Jahrhunderts – zur Zeit der Abfassung dieses Textes ist das der Krieg in der Ukraine – vor Augen stellt.

Den ursprünglichen Sängern von Psalm 58 war jede Zimperlichkeit fremd. In Vers 11 freut sich der Gerechte ganz unverholen am Untergang der Feinde Gottes, und wo die Tradition der Septuaginta dabei das Bild beschwört, wie die Befreiten ihre Hände (in anderen Versionen ihre Füße) im Blute des Sünders waschen, sieht der hebräische Text die Hunde der Gemeinde beim Auflecken des Blutes der (von Gott und seiner Gerechtigkeit) Erschlagenen. Im letzten Vers mit der Moral von der Geschicht sind sich dann wieder Orient und Okzident einig: „Gibt es einen Lohn für den Gerechten auf Erden? Ja, es gibt einen Gott, der auf Erden Gericht hält!“

Damit ist der immer wieder konstatierte Zusammenhang von Tun und Ergehen noch im irdischen Leben angesprochen, der endgültig erst in der christlichen Verkündigung vom personalen Weiterleben der Seele und Lohn und Gericht in der Unendlichkeit aufgebrochen wird. Ja, die Wurzeln dieses Psalms reichen nicht nur weit in die vorchristliche, sondern möglicherweise auch in die vormosaische Zeit zurück. Das ist kein Grund – wie das die Übeltäter in den Psalmen häufig tun – vor Scham rot zu werden – das ist schlichte Tatsache. Und jeder Fortschritt – der geistgewirkte ebenso wie der menschengemachte – wird verkleinert und bestritten, wenn man die Länge der Strecke, die dabei zurückgelegt worden ist, verkürzt.

Letzte Bearbeitung: 11. April 2024

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