Eripe me — Ps. LVIII (59)

Jakob kniet am Flußufer und bittet den Herrn um Hilfe vor den heranrückenden Feinden.

„Entreiß mich meinen Feinden und befreie mich von meinen Widersachern“ (58; 2)

Auch Psalm 58 wird wie die vorhergehenden David und Episoden aus seinem Leben zugeschrieben, und wie bei den anderen Psalmen dieser Reihe spricht nichts für die Historizität der Zuschreibung – obwohl die im ersten Abschnitt (Vers 2 – 6) beschriebene Situation besser auf die traditionell als deren Ursprung angeführte Episode aus I Könige 19,11 passt als viele andere Zuschreibungen von „Davidpsalmen“ auf die ihnen zugeordneten Schriftstellen. Aber alleine der kunstvolle Aufbau von Psalm 58 in zwei Teilen (2 – 10 und 11 – 18) mit je drei parallel geführten Unterabschnitten spricht wohl gegen eine Entstehung des Psalms in frühester Zeit, und die in beiden den Gegenstand von Klage und Bitte bildenden Situationen von Belagerung und Bedrängnis gehören zu den immer wiederkehrenden Motiven: Sie entsprechen Konstanten in der Lebenswelt des Volkes Israel von den frühesten Zeiten bis zur (ebenfalls wenig friedlichen) „Befriedung“ des Raumes zwischen der Ostküste des Mittelmeers und dem Zweistromland durch die Römer.

In der Schilderung solcher Notsituationen konnte sich jeder Jude – sei es als Einzelperson, als Familienoberhaupt oder als Stadtbewohner – wiedererkennen. Und auch die streunenden Hunde, die allabendlich furchterregend knurrend und kämpfend um die Stadtmauern streiften, um die am Tage über die Mauer entsorgten Abfälle zu fleddern, waren allen Bewohnern umfriedeter Ortschaften bestens bekannt.

Der weitgehend wortgleiche Einschub mit den die Stadt umstreifenden Hunden wirkt auf den ersten Blick wie ein Refrain – aber dieser Einschub steht nicht am Ende des jeweiligen Hauptteils, sondern wird noch von zwei weiteren Versen gefolgt. Trotzdem kann man sich vorstellen, daß zumindest diese eingängigen Verse mit den bedrohlichen Hunden wie ein Refrain von der ganzen Gemeinde respondiert wurden, während der theologisch anspruchsvollere erste Abschnitt des jeweiligen Hauptteils (2 - 6 bzw. 11 – 14) von einem Vorsänger vorgetragen wurde. Ein solcher Vortrag muß nicht unbedingt im heutigen Sinne von „Liturgie“ verstanden werden. Aber die Psalmen Israels waren nie das Privatgebet des einzelnen Frommen in seiner Kammer, sondern das Gebet einer Gemeinde, die zumindest aus der weiteren Hausgemeinschaft bestand: Familienober­haupt und seine verheirateten Söhne oder Brüder samt deren Frauen und Kindern, vielleicht auch noch Gesinde und Sklaven – denn auch die gab es nach dem Gesetz des Mose, wenn sie auch nicht so rechtlos waren wie bei manchen anderen Völkern.

Der Inhalt der beiden Haupttteile von Psalm 58 erschließt sich am leichtesten, wenn man den erwähnten Einschub zunächst ausklammert. Der erste Hauptteil nimmt die Perspektive eines bedrängten Einzelnen ein. Er ist durchgängig in der ersten Person abgefasst und enthält eine sehr konkrete Schilderung der Nachstellungen, denen sich der Beter ausgesetzt sieht. Es folgt eine Unschuldsbeteuerung – entsprechend dem Tun-ergehen-Zusammenhang wäre es ungerecht und Gottes nicht würdig, wenn er den Hilferuf nicht erhören würde. „Erhebe Dich, komm mir entgegen, sieh her“. Die letzten drei Verse (6, 9 und 10, ohne den Einschub) weiten den Blick dann ins Allgemeinere: Es ist doch Gottes Wesen, den Heidenvölkern entgegenzutreten und die Gottlosen zu vernichten, eben deshalb kann sich der Beter zuversichtlich an Gott halten, der ihm seine „feste Burg“ ist.

Der zweite Hauptteil nimmt zunächst diesen Gedanken auf, um ihm dann in Vers 11 eine überraschende Wendung zu geben Der Hilferuf gegen die Feinde wird dahingehend modifiziert, daß der Herr die Gegner zwar niederwerfen, aber nicht töten möge, „damit mein Volk nicht vergißt“ (Vers 11). Der Wortlaut ist hier in den verschiedenen Sprachen und Versionen nicht ganz klar – es läuft wohl darauf hinaus, daß das Volk am Geschick der gedemütigt weiterlebenden Feinde die Wohltaten und die Gerechtigkeit Gottes immer vor Augen haben möge. Im folgenden wird den Gegnern Gottes ihr Sündenregister vorgehalten, und die Einheitsübersetzung erneuert – und zwar sowohl 1980 als 2016 – in den folgenden Versen dann einigermaßen unerwartet den im ersten Teil geäußerten und in Vers 11 quasi aufgehobenen Tötungswunsch: „Vernichte sie im Zorn!“ Damit folgt sie der hebräischen Fassung des Psalms – die Septuaginta und dementsprechend auch die Vulgata deuten an, daß die engültige Vernichtung der Feinde Gottes und seines auserwählten Volkes erst am Ende der Zeiten erfolgen wird.

Gut möglich, daß hier die von griechischer Rationalität beeinflußten Juden von Alexandria die Vorlage ihrer emotionaleren Glaubensbrüder des Stammlandes auf eine höhere Verständnisebene gehoben haben – nicht in übersetzerlicher Willkür, sondern unter dem Wirken des an dieser Kontaktstelle zwischen westlichem und östlichem Denken besonders vernehmlichen Heiligen Geistes. (Vergl. auch Regensburger Rede von Papst Benedikt).

Dem folgen – wieder unter Auslassung des Einschubs mit den streunenden Hunden – die beiden Verse 17 und 18, die sowohl den zweiten Hauptteil als auch den ganzen Psalm beschließen. Inhaltlich entspricht die Aussage en Schlußversen des ersten Teils, die Anrufung Gottes als „meine Burg“ wird sogar zwei mal wörtlich wiederholt. Aber stärker als im ersten Teil, der von der Stärke und menschlicher Bosheit unerreichbaren Hoheit Gottes ausgeht, steht hier der Dank des Beters im Vordergrund – und zwar nicht nur der Dank für konkrete Hilfe Gottes „am Tage der Trübsal“ der Dank sagt für diese Stärke und Hoheit Gottes selbst: „Ich will besingen deine Stärke und Macht“. Von ferne hört man hier schon das „gratias agimus tibu propter magnam gloriam tuam“ des „Gloria“ der Kirche.

Die traditionellen Erklärungen (jüdische wie christliche) dieses Psalms schließen sich eng an die historisch kaum haltbaree Zuschreibung an David und an Episoden aus dessen langjährige Auseinandersetzungen mit Saul an. Um diese doch recht fernliegende Sehweise fruchtbarer zu machen, haben bereits die Kirchenlehrer eine allegorische Lesart entwickelt, die von der Wahrnehmung Davids als Typos Christi ausgeht und die klagenden Verse insbesondere des ersten Teils als Klage Christi über die ungerechten Verfolgungen durch seine Gegner und letztlichen Mörder auffasst. Wie bei allen allegorischen Deutungen, die in den Psalmen die Stimme Christi hören, hat das auf einer allerdings sehr abstrakten Ebene durchaus Wahrheits- und Erkenntnisgehalt: Alles, was menschlich ist – außer der Sünde – findet auch Ausdruck in Christus und in seinem Lehren und Handeln.

Die Grenzen des Verfahrens werden dann sichtbar, wenn Analogien, die letztlich oft nicht mehr sind als lockere Assoziationen, zu konkret verstanden oder gar für beliebige Zwecke instrumentalisiert werden, und auch dafür bietet dieser Psalm in seinem zweiten Teil ein Beispiel. In dieser Lesart werden dann die Verse 12 und 13 mit dem „zerstreue sie“ zu einer Vorhersage des Schicksal der ungläubigen Juden durch den von ihnen zurückgewiesenen Messias, der ihre Zerstreuung unter alle Völker ankündigt. Und die in Römer 11, 15 angekündigten Heimholung der Juden am Ende der Zeit sehen solche Erklärer dann in dem „Am Abend kommen sie zurück“ des nun wirklich nicht in diesen Zusammenhang gehörenden Verses 15 angekündigt. Das Beispiel, das typisch ist für eine gelegentlich bloß an einzelnen Stichworten festgemachte pseudo-allegorische Deutung von Bibelversen, wird von Valentin Thalhofer in seiner Erklärung der Psalmen mit einigermaßen spitzen Fingern und ohne Quelleangabe mitgeteilt.

Mit solchen exegetischen Kunststücken ist weder dem jüdischen Beter der Zeit vor Christus noch dem christlichen Beter der Gegenwart gerecht zu werden. Für letzteren empfiehlt es sich, Psalm 58 als ein höchst kunstvoll aufgebautes Gebet-Gedicht wahrzunehmen, in dem – stellenweise unter Temporalkoloriet fast verdeckt – die überzeitliche Wahrheit vom festen Vertrauen auf Gottes Gerechtigigkeit und Gnade einen mit ein wenig Anstrengung auch heute noch nachvollziehbaren Ausdruck gefunden hat.

Letzte Bearbeitung: 11. April 2024

*

zurück weiter