Deus, repulisti nos — Ps. LIX (60)

Drei Engel, davon einer auf einem geflügelten Pferde, schweben heran, um den Gotteslästerer Heliodor aus dem Tempel zu vertreiben

„Bring uns doch Hilfe in unserer Not, denn die Hilfe von Menschen ist nutzlos.“ (59; 13)

Psalm 59 macht es dem heutigen christlichen Beter nicht leicht. Die traditionellen Ausleger beziehen diesen Psalm der Überschrift entsprechend auf eine konkrete Situation bei den kriegerischen Unternehmen Davids – das ist hier genausowenig historisch belegbar wie bei den anderen „Davidpsalmen“. Demgegenüber ist es durchaus möglich, daß der Psalm insoweit historischen Hintergrund hat, als die Edomiter quasi Erbfeinde Israels waren. Entsprechende Hinweise finden sich nicht nur in den doch stark legendenhaften Berichten über David im 1. Buch der Könige, sondern auch in zeitlich näher liegende Epochen behandelnden Schriften wie dem Buch Jesaja aus dem 7. Jahrhundert. Auseinandersetzungen zwischen den eng verwandten Brudervölkern der Judäer und der als Nachfahren der Edomiter geltenden „Idumäer“ (verwandt, aber nicht gleichzusetzen mit der Dynastie der „Idumenäer“) hielten an bis zum Beginn des 1. Jh. Vor Christus. Ein Gebet zur Abwehr dieses alten Feindes konnte viele Saiten im Bewußtsein des Volkes Israel anklingen lassen.

Dieser Blick auf die edomitischen Erbfeinde kann insoweit zum Verständnis dieses Psalmes hilfreich sein, als seine zweite Hälfte (Verse 8 – 14) wortgleich in Psalm 107 wiederkehrt, wobei die Verse 8 – 10 in beiden Fällen von neueren Erklärern nachvollziehbar als Überbleibsel eines alten Tempelorakels verstanden werden. In den Frühzeiten des Judentums gab es zahlreiche Elemente, die von den späteren Schriftgelehrten und mehr natürlich noch vom modernen „aufgeklärten“ Bewußtsein des Westens als „Aberglaube“ verworfen werden. Orakel und Gottesurteile – über deren Vollzug wir freilich nur wenig wissen, gehörten dazu. Man denke an die Lossteine Urim und Thummim, die noch zum „Zubehör“ des Hohenpristers gehörten, als deren Gebrauch schon längst erloschen war. Ein solcher Orakelspruch aus den Tiefen des kollektiven Bewußtsein war sicher sehr gut geeignet, Beter in kriegerischen Notlagen in ihrem Gottvertrauen zu bestärken – selbst wenn es im konkreten Fall vielleicht gar nicht um die Edomiter, sondern um eines der anderen Israel umgebenden feindlichen Völker ging, von denen es in der langen Geschichte des auserwählten Volkes ja mehr als genug gegeben hat.

Jedenfalls lassen sich die drei Teile des Psalms so relativ leicht nachvollziehbar verständlich interpretieren – möglicherweise als Ablauf einer Liturgie zum Flehen um Gottes Hilfe in Kriegszeiten. Der erste Teil (3 – 7) wäre die Schilderung einer die ganze Gesellschaft erfassenden Notlage. Der zweite (8 – 10) stellt dem die Erinnerung an einen alten Orakelspruch gegenüber, in dem der Herr (schon einmal oder immer wieder) dem bedrängten Volk seine Unterstützung zusagt, und der Dritte (11 – 14) mündet in die aus vielen Gebeten bekannte eindringliche Bitte, der Herr möge sein Zaudern beenden und Israel seine tatkräftige Hilfe zukommen lassen.

Trotz solcher Lesehilfen enthält Psalm 59 in jedem Abschnitt noch den einen oder anderen Stolperstein. Im ersten Abschnitt ist das unter anderem das in Vers 6 genannte „Zeichen, zu dem die Bedrängten vor dem feindlichen Bogen flüchten können“. Die alten Schlachtordnungen kannten solche Feld- und Sammelzeichen – aber hier ist wohl weniger an einen konkreten Gegenstand und einen konkreten Kampf zu denken, sondern an etwas wie die „eherne Schlange“ des Mose oder das „cornu salutis“ – das Zeichen des Heils in der unerschütterlichen Hoffnung auf den Herrn.

Der zweite Teil, der die Stämme und Völker aufzählt und mit Gegenständen des (kriegerischen und königlichen) Gebrauchs gleichsetzt, ist zunächst mit Ephraim als Helm und Juda als Herrscherstab eindeutig positiv. Doch die Moabiter als „Geschirr“ klingt trotz des Rettungsversuches der Septuaginta mit „Waschbecken meiner Hoffnung“ eher abwertend, schließlich waren die Moabiter alte Feinde Israels. Und die Edomiter als durchaus gegenwärtige Gegner verdienen es mit „einem Schuh“ (Singular!) beworfen zu werden – so wie auch heute noch in islamischen Ländern. Der Koran hat die uralte Gewohnheit aufgenommen, und mißliebige Politiker müssen bei öffentlichen Auftritten damit rechnen, mit einem Schuh beworfen zu werden.

Die Israeliten stellten sich Gott Jahweh durchaus nicht ohne Anlaß in der Offenbarung als ein Mitglied ihres Volkes und Stammes vor, und als solches schrieben sie ihm auch die wenig zimperlichen Angewohnheiten und Denkweisen ihres Alltags zu. Verstärkt wird das deutlich dann in den letzten Versen, die den Herrn ganz offen auffordern, als Kriegspartei an der Seite Israels in dessen Kämpfe einzutreten. Empfindsame Gemüter unter den modernen Interpreten sehen darin „einen (aus unserer Sicht eher problematischen) Appell an JHWH als die Feinde vernichtenden Kriegshelden“ (Zenger) – womit sie u. E. das Wesen der Beziehung zwischen Jahweh und Seinem Volk durchaus mißverstehen. Der „Gott der Heerschaaren“ gebietet nicht nur über himmlische Sängerchöre, sondern ist ein eifersüchtiger, ein kämpferischer und manchmal sogar rachsüchtig erscheinender Patriarch, der seinem Volk auch in dessen irdischen Kriegen tatkräftig zur Seite steht – sofern das seinem unerforschlichen Ratschluß entspricht.

Womit wir den größten Stolperstein erreicht haben: Wie um Himmels Willen sollen wir diesen von Archaismen durchtränkten Psalm als Christen zu unserem Gebet machen? Da wir weder zur Zeit Davids noch zur vermutlichen Zeit der Verschriftlichung des Psalters im 5./4. Jahrhundert vor Christus mit ihren doch recht andersartigen Gebräuchen leben, bleibt uns wohl nicht viel anderes übrig, als die oben mühsam erklärten Stolpersteine, nachdem sie einmal erkannt wurden, beherzt aus dem Weg zu räumen und versuchen, den „großen Bogen“ aufzufinden. Der ist: Die Notlage von Volk (und oder Kirche) ist verzweifelt. Aber der Herr hat uns ein Zeichen des Heiles aufgerichtet und schon früher versprochen, „seinem Volk“ – als das darf sich heute ganz ohne Angst vor dem Vorwurf „kultureller Aneignung“ die Kirche Christi sehen – in all seinen Nöten und Kämpfen beizustehen.

Das Schwergewicht dieser Kämpfe hat sich zwar gegenüber der Zeit des Psalmisten auf den geistigen Bereich, gegen die Häresien und Ideologien der Gottlosigkeit verlagert. Aber die anschwellenden und immer öfter blutigen Christenverfolgungen des 21. Jahrhunderts lassen erkennen, daß da noch einiges auf uns zukommt. Wir können wie der Psalmist die sichere Hoffnung haben, „daß Gott unsere Feinde zertreten“ wird – aber anders als er wissen wir auch, daß die „Rache“, die der Herr sich vorbehalten hat (Röm 12, 19), sich in den meisten Fällen nicht schon zu unseren Lebzeiten erfüllen wird – und daß es kein Zeichen der Verwerfung durch Gott wäre, in diesen Kämpfen nach irdischen Maßstäben zunächst zu unterliegen. Der oft zu eng und geradezu mechanisch aufgefasste Tun-Ergehens-Zusammenhang hat den Frommen des Alten Testaments den Blick auf diese Wahrheit verstellt und sie immer wieder zu falschen Schlußfolgerungen geführt. Dagegen kann dieser Psalm eine Warnung sein.

Letzte Bearbeitung: 11. April 2024

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