Exaudi Deus — Ps. LX (61)
„Vom Ende der Erde rufe ich zu Dir...Sei mein Fester Turm vor dem Feind“ (60; 3, 4)
Der kurze Psalm 60 enthält in seinen wenigen (insgesamt sind es gerade einmal acht) Versen eine Fülle von Schwierigkeiten – und dabei ist die Frage der Autorschaft, die man auch hier getrost als zweitrangig beiseite lassen kann, noch nicht einmal mitgerechnet. „Vom Ende der Erde her“ ruft der Beter zu Gott – offen bleibt, ob damit tatsächlich eine Ortsangabe gemeint ist, das babylonische Exil würde sich hier anbieten – oder nur ein ein Ausdruck für die zutiefst empfundene Gottferne – das könnte es auch dem modernen Beter erleichtern, sich mit dem Ich des Liedes zu identifizieren. Zur Entstehung des Psalms wurde der Unterschied zwischen beiden Lesarten wohl weitaus weniger als gegensätzlich empfunden als in der durchrationalisierten Gegenwart.
Ähnlich großzügig ist der Umgang mit Bildern und Begriffen auch in den folgenden Versen, in denen der Herr zunächst beim Aufstieg zum schützenden Felsen helfen soll, dann als „fester Turm“ angesprochen wird, um dann schließlich in seinem „Zelt“ Gastfreundschaft zu gewähren. Das Bild vom Felsen ist der Lebenswelt Israels entnommen, in der einzeln stehende hohe Felsen sowohl im Sandsturm als auch bei Überflutungen Schutz gewähren konnten. Gleichzeitig hatte das Wort „tsur“ für hebräische Ohren aber auch eine Reihe metaphysischer Anklänge: „tsur“ sind nach dem apokryphen Buch der Jubeljahre auch die im Himmel aufbewahrten und in Stein eingemeißelten Pläne, Muster oder Fundamente aller geschaffenen Dinge, sie garantieren die unverrückbare göttliche Ordnung.
Wer den Psalm nach der Vulgate liest oder betet, braucht auf diese Assoziationskette nicht zu verzichten. Wenn es dort heißt, „in petra exaltasti me“, hört zumindest das katholische Ohr das von Matthäus überlieferte : „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“ (Matth. 16, 18) – und auch hier ist die ältere Assoziation vom Bauplan oder Fundament noch gut erkennbar. Der „feste Turm“ verbleibt in der gleichen von Räuberbanden und Kriegszügen geprägten Erfahrungswelt, und wen es auch für uns Geschichtsvergessene ein weiter Schritt vom befestigten Wachturm zum Hühnerhof sein mag: Auch das Bild vom „Schutz Deiner Flügel“ war in der Agragesellschaft, wo die Hühner noch nicht aus der Fabrik kamen, und der Habicht ständig die Kücken der Henne bedrohte, unmittelbar eingängig. Auch hier ist Matthäus ganz nahe dran: Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel versammelt. (Mat 23, 37)
Diese Bilder der Verse 3 – 5 betonen vor allem das Vertrauen auf den umfassenden Schutz, den der Beter von seinem Gott erwartet. Mit dem Bild vom – wie es in den deutschen Übersetzungen meistens heißt – „Zelt“ kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Das Zelt ist natürlich das Bundeszelt, die Wohnung Jahwehs unter den Menschen, das Israel auf all seinen Wanderungen begleitete und schließlich als Tempel auf dem Zionsberg seinen festen Platz fand. Für die Juden in der Verbannung mag die Anrufung dieses Zeltes insbesondere den Wunsch zur Rückkahr nach Jerusalem zum Ausdruck gebracht haben. Für den Beter in einer allgemeinen Notlage erinnert das Bild von der Geborgenheit in Gottes Wohnung vor allem an den Bund, den der Herr mit seinem Volk geschlossen hat und der zu unbedingter gegenseitiger Treue verpflichtet. Und das berechtigt den Beter zu dem Ausdruck der Hoffnung, nein der Sicherheit, daß Gott das hier als folgerichtig als „Gelübde“ bezeichnete Gebet erhören wird, ja tatsächlich schon erhört hat. Alle – so können wir als Christen den 6. Vers lesen – die durch die Taufe und nicht mehr durch die Beschneidung in den erneuerten Gottesbund eintreten, werden als Kinder Gottes am Erbe Israels teilhaben.
Mit Vers 7 – manche sehen den Einschnitt auch schon zu Vers 6 – beginnt ein neuer Abschnitt. Für die Abteilung zu Vers 6 spricht das den Vers 5 abschließende „Sela“ (griechisch Diapsalma) . Das ist eine möglicherweise mit dem in den Psalmen selten vorkommenden „Amen“ vergleichbare Interjektion, deren genaue Bedeutung und Funktion schon den Übersetzern der Septuaginta nicht mehr bekannt war und die in vielen Fällen, in denen sie auftritt, als Trennzeichen zwischen Strophen gelesen werden kann. Leider nicht in allen. Der Form nach könnte das Diapsalma hier zwei je vier Verse umfassende Strophen voneinander abteilen – nach Inhalt und Sprechweise liegt es wohl näher, die Trennfuge erst zwischen 6 und 7 anzunehmen. Dann könnten – mehr als eine Vermutung ist das nicht – die Schlußverse eine Art responsorium darstellen, eine chorische Antwort der Gemeinde auf die bis dahin von einem Vorbeter oder dem Familienvater vorgetragenen Gebetsverse.
Damit ist noch nichts darüber gesagt, für welchen König, für welche Art von König, denn da gebetet wird. Ob der Psalm noch in die Zeit der Könige fällt, (sie endete mit dem Tod Zedekiahs und der Wegführung ins Exil 597 v. Chr. ) ist mehr als unsicher. Aber damit ist nicht auszuschließen, daß der Schlußteil eine ältere Gebetsformel aufgreift, die bereits in der tatsächlichen Königszeit in Gebrauch war und später, teils in nostalgischer Rückerinnerung an alte Zeiten, teils in messianischer Erwartung einer künftigen Wiederherstellung des Konigtums, weiter in Gebrauch blieb. Für den christlichen Beter besteht hier jedenfalls aller Grund, seine Gedanken Christus zuzuwenden, der als einziger Kraft und Vollmacht hat, die in den vorangegangenen Versen ausgesprochenen Bitten zu erfüllen und der das in seinem Neuen Bund auf eine Weise eingelöst hat, die die in Vers 6 ausgesprochenen Hoffnungen der Frommen des Alten Bundes weit übertroffen hat.
Letzte Bearbeitung: 11. April 2024
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