Deus, Deus meus — Ps. LXII (63)

Staunend sieht das Heer, wie die Sonne auf Gebot Josuas am Himmel still steht.

„Darum halte ich Ausschau nach Dir, (...) um Deine Macht und Herrlichkeit zu sehen“. (62; 3)

Die von der Überschrift vorgenommene Zuweisung des Psalms an David und eine Episode aus seinem Leben ist hier nicht besser belegbar als in den anderen ähnlich gelagerten Fällen. Sie beruht wohl hauptsächlich auf dem in Vers 3 entfalteten Bild der Wüste, denn tatsächlich war David nach dem von Ihm im Buch der Könige gezeichneten Lebenslauf auch mehrfach gewzwungen, vor seinen Feinden in Wüste oder Steppenland zu fliehen. Versuche, den Psalm einer solchen Episode zuzuordnen oder ihn sogar danach mit einem Datum zu versehen, werden der Metaphernsprache gerade dieses Psalms nicht gerecht.

Psalm 62 bietet Musterbeispiele für die Sprachbilder, mit denen die Beter des Alten Testamentes ihren Nöte und Freuden, ihren Seelenzustand und ihre Frömmigkeit zum Ausdruck brachten. Das erste Bild (2 – 4) geht vom Zustand der Seele aus, die sich von Gott verlassen glaubt, die verdurstet wie der Körper des verirrten Wanderes in der Wüste, oder ausgetrocknet und abgestorben ist wie Boden, auf den es lange nicht geregnet hat. Und in diesem Zustand sucht der Beter – tatsächlich oder in der Vorstellung – das Heiligtum auf, „um Deine Macht und Herrlichkeit zu sehen“. Und schon in der geistigen Hinwendung zu Gott als der Quelle des Lebens erfährt er eine Art von Wiederbelebung seiner Hoffnungen und seiner Lebenskraft.

Diese Wiederbelebung ist so tiefgehend und so weitreichend, daß die zweite Strophe (5 – 8) zum Ausdruck der Dankbarkeit für die umfassende Sättigung des geistigen Verlangens zu dem der ersten Strophe direkt entgegengesetzten und heute vielleicht etwas befremdlichen Bild des tafelnden Gourmands greift, der sich – eine seltene Gelegenheit in einer Gesellschaft, deren Alltag für die meisten vom Mangel gekennzeichnet war – die fettesten und daher besten Bissen einverleiben kann. Der Überfluß führt hier den Beter aber nicht zum Leichtsinn oder Übermut, sondern zu den ganzen Tag, das ganze Leben erfüllender Dankbarkeit und der Sicherheit, sich unter dem Schutz Gottes geborgen zu sehen.

Die dritte Strophe, die unserem Verständnis nach bereits mit dem anderswo auch noch dem zweiten Teil zugerechneten Vers 9 beginnt, faß zunächst die von Gott erfahrenen Wohltaten in zwei gegenläufigen Vorstellungen zusammen: Der gerechtfertigte Beter sieht sich an der Hand Gottes geborgen; seine Feinde – ohne die es in der Gebetswelt des alten Testaments selten abgeht – sind schon so gut wie dem Tode verfallen, sie werden im Krieg dahingerafft und letztlich eine Beute der Schakale. Der letzte Vers bringt für uns heutige etwas überraschen plötzlich auch noch „den König“ ins Spiel, der von Gott zur Aufrechterhaltung der irdischen Ordnung eingesetzt ist und dieser Aufgabe in den Augen des Beters offenbar auch gerecht geworden ist.

Anmerkung zur Sprache: Die „Seele“, von der in diesem Psalm mehrfach die Rede ist, wird hier im hebräischen Text mit dem Wort „napsi“ bezeichnet, das ähnlich wie das lateinische „anima“ in der Bedeutung zwischen „Leben“, „Lebensprinzip“ und „Seele“ changieren kann. Die Übersetzer der Septuaginta haben jedoch bereits ganz eindeutig mit „psyche“ übersetzt – und der ganze Kontext spricht dafür, daß auch das hebräische Wort hier ähnlich eindeutig gemeint ist,

Einen Anhaltspunkt für dieses Verständnis bietet Vers 2. Er stellt ‚napsi‘ dem ‚trockenen Land ohne Wasser“ gegenüber. Nun ist „Land“ hier noch nicht gleichzusetzen mit „Boden“ oder „Erde“, wie es die Einheitsübersetzung suggeriert – dann wäre die Parallele zur Erde, aus der Gott den Menschen formt und ihm die Seele einhaucht, vollständig. Das hebräische Wort „baeresh“ bezeichnet allerdings erher geographische oder soziale Gebilde: Land Israel, Land Ägypten.

Wie in den meisten Fällen, weiß man auch hier nicht, ob der König eine gegenwärtige Realität bezeichnet, eine nostalgische Erinnerung oder hoffnungsvolle Vorausschau auf den als weltlichen König erwarteten Messias. Insoweit ist hier das bereits zu Pealm 60 gesagt unmittelbar übertragbar. Für die Beter des alten Bundes müssen diese Perspektiven ja nicht unbedingt als einander ausschließend umpfunden worden sein. Der Wortlaut des Verses kann über Jahrhunderte hinweg gleich geblieben sein – die Vorstellungen, die sich damit bei den Frommen verbanden, mögen sich den Zeitumstenden entsprechend verändert haben. Und so können christliche Beter den Vers in einer vierten Bedeutungsschicht auch auf Christus, den bereits sein Werk vollbracht habenden Messias beziehen, der sich nicht nur „an Gott freut“, sondern selbst Gott ist und an dessen ewigem Leben teil hat.

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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