Exaudi Deus orationem meam — Ps. LXIII (64)
„Sie schärfen ihre Zungen wie Schwerter und schießen giftige Worte wie Pfeile.“ (63; 4)
In seiner Situationsschilderung entspricht Psalm 63 einem bereits bekannten Muster: Die erste Hälfte ( 2 – 7) schildert die Bosheit von Feinden, die sich zusammengerottet haben, um den Schuldlosen hinterhältig anzugreifen. Der zweite Teil spricht zunächst ( 8, 9) davon, daß der Herr dieses Treiben nicht duldet und ihre Pläne durch sein Eingreifen vereitelt, er zieht alsdann (10, 11) daraus die Nutzanwendung: An solchem Eingreifen erkennen die Menschen das Wirken und das Gesetz des Herrn und sehen sich ermutigt und bestätigt, bei ihm ihre Zuflucht zu suchen und zu finden.
Wer die Feinde sind, wird nicht ganz klar gesagt. Die Bilder vom Schwert, Pfeil und Versteck mögen zunächst an kriegerische Feinde oder Räuber denken lassen – aber die Waffen sind eben nur Bilder dafür, daß die Feinde tatsächlich mit Ihrer Zunge, mit vergifteten Worten kämpfen. Es sind Verleumder, die den Ruf ruinieren, Betrüger, die fordern, der Fromme soll „erstatten, was er nicht geraubt“ (Ps. 68) hat – üble Zeitgenossen, die im Schutz der Anonymität, wie man heute sagen würde, ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle machen. Keiner hat den Durchblick, keiner kann ihnen etwas beweisen – aber Gott sieht es und schreitet ein. Das Leben in einer jüdischen Siedlung der Zeit war nicht so iddyllisch, wie es die oft übersüßten Illustrationen von Szenen des alten Testaments suggerieren, und selbst da, wo eine Ortschaft nur aus den Mitgliedern einer Familie bestand, ging es oft höchst unfriedlich her. Das alte Testament ist voll mit Schilderungen von Episoden, in denen ältere und jüngere Brüder bitter zerstritten sind, Schwägerinnen sich befehden und Patriarchen ein schwer erträgliches „patriarchales“ Regiment führen.
Insoweit also eine ganz gewöhnliche menschliche Situation – die zu bestehen dem Frommen oft nur duch den unerschütterlichen Glauben an Gottes eingreifende Gerechtigkeit möglich war. Auch hier zeigt der Tun-Ergehens-Zusammenhang seine Funktion als ein Grundpfeiler des jüdischen Glaubens.
Die griechisch/lateinische Textüberlieferung des Psalm betonts stärker als die heute meistgenutzte hebräische Version die kiegerischen und waffenmäßigen Bilder – besonder deutlich erkennbar an Vers 8/9, wo das Eingreifen Gottes die von den Bösewichten abgeschossenen wohl doch als real vorgestellten Pfeile in harmlose Kinderpfeile verwandelt. Zu erklären ist dieser Wechsel des Blickpunktes vielleicht mit dem Bestreben der Juden von Alexandria, den Text stärker auf David zu beziehen, der auch in der Überschrift genannt wird und dessen nach dem Buch der Könige erzähler Lebenslauf nun wahrlich genug Beispiele für hinterhältige Feinde, verräterrische Angriffe und wunderbare Rettungen bietet.
Im Anschluß daran lesen die Kirchenväter und ihnen folgende christliche Erklärer den Psalm oft als „indirekt messianisch“. Danach zeichnet er im Bild des verfolgten, bekämpften und immer wieder wunderbar erretteten David die Vorgestalt Christi, seiner Verfolgung, Tötung am Kreuz und schließlichen Verherrlichung in der Auferstehung. Von daher – also auf dem „Umweg“ über Christus – können sich dann auch die verleumdeten und verfolgten Christgläubigen als (mit-)leidende Glieder Christi eingeschlossen und mitgemeint sehen.
Diese sehr weitgehende Christuszentriertheit bei der Auslegung nicht nur dieses Psalms mag in Zeiten einer naturwüchsigeren Frömmigkeit – oder in klösterlichen Umgebungen, die sich der Versenkung in Leidensweg und Triumpf des Erlösers verschrieben hatten – den betenden Zugang erleichtert haben. Wir vermuten, daß dem heutigen Beter, der sich den Zugang zu den Psalmen zu erarbeiten und zu erbeten versucht, ein stärker vom Text und den Bedingungen seiner Entstehung ausgehender Zugang leichter fällt – sofern er sich dabei nicht auf die Wahrnehmung der Textes als „Zeugnisse der altjüdischen Religion“ beschränkt, sondern auch das in den Blick nimmt, was allgemeinmenschlicher Gotteserfahrung und Gottessehnsucht – auch heute noch – entgegenkommt und was dann im Wissen darum, daß der Messias tatsächlich gekommen ist und sein Werk vollbracht hat, über mehr als zweitausend Jahre hinweg zm Gebet der Kirche und der Christen geworden ist.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
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