Te decet hymnus — Ps. LXIV (65)
„Wir wollen uns am Gut Deines Hauses sättigen, Dein Tempel ist heilig“ (64; 5)
Psalm 64 eröffnet eine kleine Folge von Lobliedern (bis 68), die die Wohltaten Gotters an den Menschen preisen und dazu auf Bilder zurückgreifen, die auch im Abstand von zweieinhalb Jahrtausenden größtenteils unmittelbar verständlich sind. Die Zuschreibung an David ist hier ebensowenig belegbar wie bei den meisten anderen sogenannten Davidpsalmen – und wie bei den meisten anderen davon mögen sich auch in diesen Psalmen Gedanken oder ganze Verse finden, die bis weit in die Frühzeit Israels zurückreichen. Und wenn auch manches davon fremdartig erscheint, so findet sich doch kaum etweas darin, was nicht auch der heutige christliche Beter spontan nachvollziehen und mitbeten könnte.
Psalm 64 läßt sich in drei Strophen nicht ganz gleicher Verszahl einteilen. Dabei besingt die erste Strophe (2- 5) das Gnadenhandeln Gottes an den Menschen, die zweite ist dem Lob der Macht des Schöpfers und Weltenherrschers gewidmet, und die dritte wendet sich Lob und Dank für die konkreteren Formen zu, in denen die Fürsorge Gottes für seine Menschenkinder zum Ausdruck kommt. Ausgerechnet in der theologisch interessantesten – und wohl eben daher auch begrifflich schwierigsten – ersten Strophe zeigen sowohl die hebräische als auch die griechisch/lateinische Tradition eine schwer verständliche Stelle.
Wer an der tatsächlichen oder fiktiven Autorschaft Davids festhalten will, liest hier „Ich werde von bösen Worten und Taten (anderer) überwältigt – Du wirst sie sühnen“. Die christliche Perspektive legt eher die Übersetzung nahe, die sich so auch in der EÜ von 1980 findet: Unsere Schuld ist zu groß für uns, du wirst sie vergeben. Das ist zwar ein Unterschied, aber nicht unbedingt ein Widerspruch. Mit solchen Unschärfen muß man bei so altehrwürdigen Texten leben. Im übrigen steht in dieser ersten Strophe der Tempel auf dem Zionsberg als Wohnsitz Gottes und Ausgangspunkt seines Gnadenhandelns im Mittelpunkt. Hierhin streben oder sollen streben alle Menschen – nicht nur, wie sonst oft präzisiert wird, alle Söhne Abrahams oder das Volk Israel.
Eine Erklärung dafür bietet dann die zweite Strophe: Jahweh ist der Schöpfer der ganzen Erde, mit den tiefsten Meeren und den höchsten Bergen. Er ist somit der Herr aller Völker, selbst derer, die an den äußersten Enden der Welt wohnen. Alle blicken hin zu ihm. Und während bei der Begrifflichkeit „vom Aufgang bis zum Untergang“ sonst meistens die räumliche Erstreckung vom fernsten Osten bis zum tiefsten Westen im Vordergrund steht, ist hier durch die ausdrückliche Beifügung von Bezeichnern für den Morgen und den Abend auch die zeitliche Dimension betont: Die ganze Welt in all ihren Ländern und Zeitaltern ist gemeint – bis auf den heutigen Tag und darüber hinaus.
Gegenüber dieser kosmischen Perspektive mögen die Konkretisierungen der dritten Strophe fast wie ein Zurücktreten anmuten: Der Herr ist der Spender des Regens, der der dürren Erde Fruchtbarkeit verleiht, er regiert die Jahreszeiten, läßt das Getreide in den Tälern wachsen, das Grad auf den Hügeln, und vermehrt die Herden – und deshalb singt die ganze Schöpfung sein Lob.
Moderne Bibelforscher – konkret zu nennen wäre hier Frank Lothar Hossfeld in dem gemeinsam mit Erich Zenger erstellten Psalmenkommentar – wollen in dieser dritten Strophe einen Nachklang des alten Kultes des Wettergottes Baal vernehmen – das entspricht ihrem Bestreben, die Psalmen wie überhaupt das ganze Alte Testament möglichst tief in die Götterwelt des alten Orients einzubetten – und damit möglichste weit von seiner Erfüllung im Geist und aus der Perspektive des neuen Testaments zu entfernen. Auszuschließen sind solche Nachklänge nicht – in Psalm 17 sind sie recht deutlich vernehmbar. Aber gerade der Vergtleich mit Psalm 17 läßt erkennen, daß hier eben nicht ein furchterregende Gewittergott angerufen wird, sondern der barmherzige Schöpfer des Himmels und der Erde, der den Menschen zur Pflege seine paradiesischen Gartens geschaffen und beauftragt hat.
Unbelegbare Spekulation sind schließlich auch Versuche, dem Psalm einen bestimmten „Sitz im Leben“ etwa im Rahmen einer Dankesliturgie im Temepl zuzuweisen. Es fehlen alle liturgisch deutbaren Elemente wie Anrufungen oder Responsorien, die solchen Versuchen bei anderen Psalmen eine gewisse Plausibilität verleihen. Nehmen wir Psalm 65 einfach als Ausdruck der tiefen Dankbarkeit frommer Seelen, die sich dessen bewußt sind, daß alle natürlichen und alle übernatürlichen Gaben eben das sind: Gaben aus der Hand des Schöpfers, und nicht „Gemachtes“ aus dem Willen und der Tätigkeit des Menschen selbst. Schätze des Tempels. Und daß ein solche frommes Lied privat oder öffentlich auch im Tempel gebetet werden konnte, ist ja keinesfalls auszuschließen.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
*