Jubilate Deo — Ps. LXV (66)
„Furchterregend ist sein Tun an den Menschen. Er verwandelt das Meer in trockenes Land...“ (65; 5,6)
Formal (im Eingangsvers „Jauchzt Gott, alle Länder der Erde“), vor allem aber auch im Inhalt, schlagen Psalm 65 und der ihm nachfolgende Psalm 66 ein Thema an, das dann erst in den Psalmen ab 91 in großer Breite ausgeführt wird: Die frohe Erwartung und Zuversicht, daß der Herr im Ende alles, was seiner Ordnung entgegensteht, „richten“, d.h. „wieder richtig machen“ werde. Das Thema werden wir dann dort noch im Einzelnen behandeln.
Für das Loblied des Psalms 65 gilt im Großen und Ganzen das Gleiche, was schon zu # 64 gesagt wurde: Auch über den großen zeitlichen Abstand hinweg sind die Sprachbilder heute noch verständlich, und der Christ des neuen Testaments kann sich dem Gebet des Frommen aus dem alten Bund vorbehaltlos anschließen. Fast vorbehaltlos, denn das unerschütterliche Gottvertrauen, das die Verse ausstrahlen – und das auch viele Christen in früherer Zeit zu teilen vermochten – ist uns heutigen weitgehend abhanden gekommen.
Anders als beim Vorgänger sind jedoch hier einige Elemente vorhanden, die auf gemeinschaftliches Gebet hindeuten, vielleicht auch auf einen liturgischen Gebrauch im Tempel. Dazu gehört die explizite Aufforderung zum Gotteslob in den Zeilen 3 und 4, die Erwähnung eines tatsächlich gerade stattfindenden oder für die nähere Zukunft geplanten Dankopfers (13 – 14) und vielleicht auch der etwas lehrhaft anmutende Schluss, der in Vers 16 mit der Anrede einer Gemeinde – oder einer Tischgemeinschaft? - eingeleitet wird: Kommt und hört, ich will euch erzählen, was Gott mir Gutes getan hat.
Damit löst Psalm 65 quasi ein, was in vielen anderen Psalmen zum Abschluß einer Danksagung versprochen wird: Ich will dem Herrn danken und Gott preisen vor der ganzen Gemeinde. Dabei machte es wahrscheinlich keinen Unterschied, ob ein solches Dankgebet tatsächlich im Tempel verrichtet wurde – nur die wenigsten Juden hatten ja diese Möglichkeit – oder im häuslichen Anwesen: Die hier angesprochene „Gemeinde“ bestand immer primär aus der in Hausgemeinschaft lebenden Großfamilie. Brandopfer – auch Weihrauchopfer – konnten aber wohl spätestens seit den Reformen König Josiahs im 7. Jahrhundert nur noch im Tempel auf dem Zionsberg dargebracht werden. Im privaten Rahmen trat an ihre Stelle wohl der rituell gesegnete und getrunkene Kelch zum Abschluß feierlicher Mahlzeiten. Der Wein wurde getrunken – und nicht wie bei den Heidenvölkern als Libation vergossen.
Innerhalb des liturgischen Rahmens – wenn es denn einer ist – der Verse 1 – 4 und 13 – 20 nehmen die Verse 5 – 12 in gewisser Weise eine Sonderstellung ein. Das darin enthaltene Gotteslob bleibt nicht im Allgemeinen, sondern bringt das sehr spezifische Gottesverständnis des auserwählten Volkes von seinem Bundesgott zum Ausdruck. Es beginnt (Vers 6) mit dem Rückblick auf den Zug durch das Rote Meer – also der Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten – und endet mit der Befreiung aus dem babylonischen Exil (Vers 12). Die Verse 7 und 8 machen einen in der Einheitsübersetzung leider verwischten Unterschied zwischen der Art und Weise, mit der der Herr den Heidenvölkern und seinem auserwählten Bundesvolk begegnet. Den Heidenvölkern gilt der strenge Blick des ewigen Herrschers, denen Trotz und Abwehr unterstellt wird – doch letztlich sind alle Völker und Stämme, Juden wie Heiden, aufgerufen, Gottes Lob zu singen.
Die Bundesbeziehung ist jedoch nicht nur eine willkürliche Bevorzugung Israels – die Kehrseite des Vorzugs sind strenge Prüfungen, Sklaverei und Fremdherrschaft. Auserwählung bedeutet nicht Besserstellung, eher das Gegenteil. Das Volk Gottes hat immer die besondere Wut der Gottlosen auf sich gezogen. Die in den Versen 7 und 8 angedeutete ethnische Unterscheidung zwischen Heidenvölkern und dem Bundesvolk ist im Christentum aufgehoben- doch daß die Menschen auch und gerade als Christen der Läuterung bedürfen und Auserwählung auch drückende Last bedeuten kann, ist nach wie vor Gesetz.
In der Vulgata und jüngeren, zu christlicher Zeit entstandenen Versionen der Septuaginta, wird Psalm 65 in der Überschrift als „Lob-Psalm auf die Auferstehung“ bezeichnet. Dabei handelt es sich offensichtlich um einen Zusatz aus der Kirchenväterzeit, für den der Psalmtext selbst jedoch keinen offensichtlichen Anlaß bietet. Die Kirchenväter mit ihrem streng aus der Perspektive des Neuen Testaments auf die Psalmen gerichteten Blick sahen diesen Anlaß in Versen wie 6 und 12: die allen Menschen angebotene Erlösung aus der ägyptischen Sklaverei und babylonischen Gefangenschaft der Sünde ist besiegelt in der Auferstehung Christi von den Toten.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
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