Deus misereatur nostri — Ps. LXVI (67)
„Die Völker sollen Dir danken, Gott, danken sollen Dir die Völker alle.“ (66; 4,) 6
Der kurze – es sind nur 8 Verse – Psalm 66 ist ein Segenspsalm, der möglicherweise direkt dem liturgischen Gebrauch entnommen worden ist oder doch in seiner Gestalt liturgische Formen aufbewahrt oder nachahmt. Trotz seiner Kürze ist der Psalm klar erkennbar in drei Teile gegliedert, die – falls es sich tatsächlich um einen liturgische vorgetragenen Text handelt – möglicherweise mit verteilten Rollen rezitiert/gesungen worden sind. Die beiden einleitenden Verse wiederholen traditionelle Segensformeln, die sowohl als Bitte um Gottes Segen als auch bereits als Zuspruch göttlichen Segens verstanden werden können – die beiden Aspekte waren im Bewußtsein der gläubigen Juden nicht streng voneinander getrennt, eine Bitte im vollen Vertrauen auf Gottes Hilfe auszusprechen und ihre Erfüllung zu erfahren, fallen in Eines.
Die traditionellen Formeln stellen zunächst eine konkret zum Gebet versammelte Gemeinde vor Augen von Israeliten, doch schon im zweiten Vers weitet sich der Blick über die Anwesenden und über das Volk der Juden hinaus auf die ganze Welt: Der erbetene Segen soll allen Menschen zuteil werden, und der Refrain (Vers 4) unterstreicht das mit Nachdruck: Alle Heidenvölker sollen dich preisen und Dein Lob bekennen. Die Einheitsübersetzung spricht hier nur allgemein von allen Völkern, sie kann sich dabei auf die Vulgata stützen, die hier „populi“ hat. Der hebräische Text schreibt hier „goyim“, womit in der Regel betont wird, daß die fremden Völker auch fremde und damit falsche Götter haben, also „Ungläubige“ sind. Im lateinischen wird dieser Aspekt vielfach mit dem Begriff der „gentes“ wiedergegeben. Auch das Griechisch der Septuaginta kennt diese Unterscheidung, und hat hier ebenfalls den neutraleren Begriff. Warum Septuaginta und Vulgata hier nichts von den Heidenvölkern wissen wollen, ist schwer zu erkennen – vielleicht gehen sie mit typisch westlicher Logik und Präzision davon aus, daß die Völker, die den rechten Gott erkannt haben, eben keine Heidenvölker mehr sind.
Die Juden sahen das etwas anders. Für sie war auch die Abstammung ein extrem wichtiger Gesichtspunkt, und deshalb hatte ihr Tempel auch einen besonderen „Vorhof der Heiden“, in dem die Goyim, die sich zu Jahweh hingezogen fühlten, zugelassen waren – ohne den inneren Tempelbezirk betreten zu dürfen. Der nächste Vers (5) nimmt den Gedanken der Ausweitung des Segens und der Gnade Jahwehs für die ganze Welt auf und spricht dabei die „Völker der Welt“ mit Begriffen an, die eher die staatliche oder rechtliche Verfaßtheit dieser Völker im Auge haben. In der Vulgata kommen an dieser Stelle dann die „gentes“ ins Spiel – die Einheitsübersetzung gibt das an dieser Stelle mit „Nationen“ wieder, unserer Ansicht nach durchaus zutreffend.
Man kann aus diesen wenigen Versen sehen, welche Probleme mit jeder Lektüre der Bibel – sei es im vorgeblichen hebräischen Urtext, sei es in einer antiken oder einer modernen Übersetzung, einhergehen. Und jede weitere Übersetzung macht die Sache noch um eine Stufe schwieriger. Wir wissen schlichtweg nicht mit letzter Sicherheit, was die Verfasser des Psalms im Sinn hatten, wenn sie hinsichtlich der Völker von Goyim, Ummim oder Ammim sprachen, ob und wieweit sie auf rechtliche oder religiöse Unterschiede anspielten, oder ob sie nur um des Versmaßes (wenn sie denn eines hatten) oder des Wechsels im sprachlichen Ausdruck wegen das eine oder andere Wort verwandten. Und für die Übersetzer der Septuaginta, deren Koine-Griechisch uns manchmal noch weniger präzise fassbar ist als das Hebräische, gilt das noch mehr, zumal auch deren Kenntnisse des manchmal ein halbes Jahrtausend älteren Hebräischen nicht über jeden Zweifel erhaben sind.
Die Nutzanwendung all dessen für den heutigen Leser und erst recht den Beter der Psalmen ist, daß man nicht in jedem Fall dem Textverständnis näher kommt, wenn man eine philologische Brille aufsetzt und einen Psalmverses nach allen Regeln von Lexikon und Grammatik zergliedert. Schnell erstickt man in einer Unzahl der angebotenen Varianten und Alternativen und hat nachher keinen Sinn mehr, sondern nur noch Wörter und Buchstaben – aber die gleich in drei oder mehr Sprachen und Schriften. Im konkreten Fall heißt das, daß der oben angeführte Gedanke der Ausweitung des göttlichen Segens von der betenden Gemeinde Israels auf andere Völker und schließlich den ganzen Erdkreis einen guten Leitfaden zum Verständnis dessen abgibt, was da gemeint ist – unabhängig von der Terminologie.
Dieser Gedanke ist auch hilfreich für die Erschließung der messianischen Perspektive, in der christliche Erklärer Psalm 66 seit Alters her gedeutet haben: Aus dem Segen Israels ersteht der Segen für die ganze Welt. Und erst unter dem Königtum Christi werden die Menschen wahre Gerechtigkeit und Frieden erfahren., so daß der Refrain es in Vers 6 ein weiteres Mal bestätigt: „Alle Heidenvölker sollen dich preisen und Dein Lob bekennen“.
Der folgende Schlußteil und insbesondere der Vers 7 scheinen aus diesem nachgerade kosmischen Zusammenhang herauszufallen, wenn plötzlich von der Frucht der Erde die Rede ist. Einige Erklärer haben darin einen Anlaß gesehen, den ganzen Psalm für ein Danklied zum Erntefst zu halten. Doch das gibt dem halben Vers wohl zu großes Gewicht. Eher ist anzunehmen, daß der hier angedeutete Dank für die Wohltaten Gottes auf den ersten Teil zurückverweist, in dem das Wohlergehen Israels als Beispiel und Verheißung dafür angeführt wird, daß unter dem Gesetz dieses Gottes alle Völker zum Heil berufen sind. Von diesem Gedanken her haben die alten Erklärer auch der „Frucht der Erde“ im Anschluss an Isaiah 45, 8 eine besondere allegorische Deutung abgewonnen: Diese Frucht der Erde ist nichts anderes als der Messias, das Wort Gottes, das irdisches Fleisch annimmt, um allen Menschen das Heil zu erschließen.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
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