Exurgat Deus — Ps. LXVII (68)
„Gott bringt die Verlassenen heim und führt die Gefangenen hinaus ins Glück.“ (67; 7)
Psalm 67 gehört mit 36 Versen zu den längeren Liedern des Psalmenbuches – nur 9 sind noch länger – und sein Text ist in beiden Traditionen stellenweise kaum les- und interpretierbar. Die hebräische Fassung enthält viele unklare Ausdrücke, unbekannte und sonst nirgendwo vorkommende Wörter und grammatische Eigenheiten – was dazu geführt hat, daß sich in der Überlieferung zahlreiche Fehler oder problematische Korrekturen eingeschlichen haben. Die griechische Version und die lateinische Version zeigen ähnliche Probleme – offenbar waren auch diese frühen Übersetzer nicht imstande, den Wortsinn ihrer Vorlagen sicher zu erschließen. Zusätzlich erschwert wird das Verständnis dadurch, daß selbst da, wo ein einzelner Vers oder eine ganze Strophe in sich einigermaßen verständlich erscheinen, der Zusammenhang mit dem nächsten Satz oder der nächsten Strophe oft unklar bleibt.
Manche Erklärer überbrücken diese Unklarheit mit sehr gewagten Interpretationen. Natürlich kann man fast jedem Vers eine Deutung aus christlicher Perspektive abgewinnen oder abringen. Trotzdem soll hier entsprechend unserer allgemeinen Zielsetzung versucht werden, der Stellung des Psalms im jüdischen Glaubens- und Gebetsleben der vorchristlichen Zeit näher zu kommen – und herauszufinden, was davon auch dem christlichen Beter einen Zugang erleichtert.
Bereits der Versuch, die einzelnen Abschnitte des Psalms zu identifizieren und an einem verbindenden „roten Faden“ festzumachen, ist nicht ganz einfach. Tatsächlich ist bis heute nicht geklärt, ob Psalm 67 eine eher eine lockere Sammlung kürzerer Lieder darstellen, die teils aus nur einer, teils aus mehreren Stropehn bestehen – oder aber eine mehr oder wenger kunstvollen Komposition nach einem kompliziertern Plan, auch hier wohl unter Verwendung vorgefundenen Materials. Wegen der doch erheblichen Unterschiede in der Sprache und in den Sichtweisen der einzelnen Strophen und Abschnitte neigen wir dazu, den Psalm als eine Aneinanderreihung von unterschiedlichen Stücken unterschiedlicher Sprache und Herkunft, vermutlich auch verschiedenen Alters, zu betrachten. Diese Aneinanderreihung ist zwar keinesfalls willkürlich – es gibt Hinweise auf einen Roten Faden, auf einzelne Elemente, die immer wieder auftauchen. Aber wir wollen uns nicht darauf einlassen, die Strophen in die komplizierte Architektur eines kunstvollen Gesamtplanes einzupassen, wie das z.B. im Kommentar von Zenger/ Hossfeld zu besichtigen ist.
Und solange wir nicht davon ausgehen können, einen halbwegs zuverlässigen „roten Faden“ in der Hand zu haben, werden wir die Strophen zunächst einmal für sich betrachten – erforderlichenfalls mit Seitenblick auf die im Laufe von über 2000-jähriger Forschung zusammengetragenen Parallelstellen oder Assoziationen aus anderen Büchern des Altern Testaments.
Im ersten Abschnitt (Verse 2 – 11 und damit drei Strophen umfassend) sehen wir ein typisches Lob und Danklied Israels für die wunderbaren Taten, die der Her an seinem Volk getan hat: Er läßt seine Feinde vergehen wie Rauch vor dem Winde, er sorgt für die Wohlfahrt der kleinen Leute (Witwen und Waisen) und führt die Gefangenen in die Freiheit – dabei ist hier mehr an den Auszug aus der ägyptischen Knechtschaft als an die Rückkehr aus dem babylonischen Exil zu denken, obwohl beides im Verständnis des nachexilischen Judentums kaum trennbar zusammenhing – und im Christentum stets an die Befreiung von der Herrschaft der Sünde durch die Erlösungstat Christi erinnert.
Dann die Wunder des Wüstenzuges und die Fruchtbarkeit des gelobten Landes – der immerhin zwei Verse lang besungene strömende Regen ist hier vielleicht noch Nachhall einer Erinnerung an den Wettergott der Vorzeit, wie er bereits in Psalm 29 erschienen ist. Für die frommen Juden im oft von Dürre bedrohten Israel war der strömende Regen immer auch Ausdruck des göttlichen Wohllwollens. Erst das lebenspendende Wasser macht das Land bewohnbar, so daß Tiere und Menschen dort ihre Wohnung finden können. Und dann enthält die Rede vom fruchtbaren Regen immer auch eine Vorahnung der Herabkunft des Messias: Tauet Himmel, den Gerechten, Wolken regnet ihn herab (Jes 45, 8). Viele Psalmen verbinden in einzigartiger Weise die Erinnerung an die ältesten Zeiten noch vor dem Bundesschluss Abrahams mit der Vollendung im Erscheinen des Messias.
Die 4. Strophe (12 – 15) scheint ein neues Thema anzuschlagen: Von einem Sieg ist die Rede, den die Boten Gottes oder die Sängerinnen des Volkes verkünden – welcher Sieg hier gemeint sein könnte, bleibt ebenso unklar wie die nachfolgende Verse, deren Wortlaut in den verschiedenen Überlieferungen stark von einander abweicht – und in keiner davon einen überzeugenden Sinn zu ergeben scheint. Das gilt auch von den überaus tiefschürfenden Vermutungen der modernen Bibelwissenschaft. Möglich ist hier vieles – aber wirklkich überzeugend so gut wie nichts. Deshalb bleiben wir bei der Anmerkung Reischls in seiner übersetzung von 1873: „Diese Stelle – eine der schwierigsten in der ganzen heiligen Schrift des A.T. – ist wahrscheinlich ein Bruchstück aus einem Siegesgesang aus der ersten Zeit der Eroberung Kanaans durch Israel. Auch die Lesarten und die alten Übersetzungen schwanken“.
Die nächste Strophe (5. Strophe, Verse 16 – 19) nimmt das im vorangehenden Vers anklingende Motiv des Berges Zalmon auf und bringt einen weiteren „Gottesberg“ in Spiel, den Baschan. Welche Berge mit Zalmon und Baschan gemeint sind, ist kaum überzeugend zu ergründen. Wichtiger erscheint, daß beide Gebirge eines gemeinsam haben: Sie blicken voll Neid auf den Berg, den Gott sich zum ewigen Wohnsitz erwählt hat. Damit kann nur ein dritter Berg gemeint sein: der Zionsberg – und wenn das stimmt, bietet sich hier vielleicht doch ein Stück eines „roten Fadens“, der es erlaubt, die verschiedenen Verse von Psalm 67 miteinander zu verbinden. Es geht um den Berg Zion, auf den David die Bundeslade bringen ließ und wo sein Sohn Salomon dann später den ersten festen Tempelbau errichtete.
Bereits die letzten Verse dieser Strophe lassen an das Bild einer großen Prozession denken, in der die Gottheit mit großem Prunk (tausend mal tausend Wagen, Gefangene und Beutestücke) zu Ihrem Heiligtum hinaufzieht. Tatsächlich sieht eine der traditionellen Deutungen von Psalm 67 darin ein Lied zur Feier der Inbesitznahme des Zionsberges durch Jahweh. Offen bleibt dabei, ob dieses Lied bereits auf ein tatsächliche Ereignis – etwa die feierliche Überführung der Bundeslade auf den Zionsberg – zurückgehen könnte, oder ob es irgendwann später entstanden ist, um an dieses große Ereignis zu erinnern. Schließlich gab es mehrere jüdische Feste, die in Verbindung mit der Tempelweihe standen. Als jährlicher Feiertag wurde ein solches Fest (Chanukka) allerdings erst nach der Reinigung und Neuweihe des II. Tempels im Jahr 165 v. Chr. Begangen. Zu all diesen Gelegenheiten hätte ein Preislied zur Erinnerung an den Einzug Jahwehs auf dem Zionsberges seinen Platz haben können.
Gestützt wird diese Vermutung durch die übernächste Strophe (25 – 28), die mit der Beschreibung genau einer solchen Prozession zum Einzug Gottes in sein Heiligtum wieder das Thema der Besitzergreifung des Zionsberges aufgreift. Dabei bleibt die Aufzählung der Teilnehmer aus heutiger Sicht eher nebensächlich und unvollständig. Die Priesterschaft fehlt ganz, und nur vier Stämme werden genannt: Benjamin und Juda als die Träger des Südreiches Juda, Sebulon und Naftali als Repräsentanten des im 8. Jahrhundert untergegangenen Nordreiches Israel. Soll heißen: Das ganze Volk Israel ist gemeint.
Der Zusammenhang der siebten Strophe, die sich inhaltlich leicht an die fünfte Strophe anschließen läßt, mit dieser wird allerdings dadurch unterbrochen, daß mit den Versen 20 – 24 eine Strophe eingeschoben ist, die zunächst nichts mit einer solchen Prozession zu tun zu haben scheint. Diese 6. Strophe ist ein Preislied auf den Herrn, das einigrmaßen isoliert in seinem Umfeld steht – sieht man von der erneuten Nennung des Baschanberges in Vers 23 ab. Und auch in den folgenden Versen nach V 28 wird das Thema des Einzugs Jahwehs auf seinem Berg nicht weiterverfolgt. Die 8. Strophe (29 – 32) enthält eine Reihe von zunächst ganz allgemein erscheinenden Bitten, die allerdings mit Vers 30 durch die Wendung „um Deines Temepels willen“ denn doch wieder in einen Zusammenhang mit dem Tempel gerückt werden.
Die 9. und letzte Strophe (33 – 36) nimmt dann den Ton des Preisliedes von Strophe 6 wieder auf und stimmt ein Gotteslob an, dem sich neben den frommen Juden auch jeder Christ, auch wenn ihm die Anspielungen und Zusammenhänge der vorhergehenden Strophen unklar geblieben sind, mit ganzen Herzen anschließen kann.
Aus diesem strophenweisen Durchgang ergibt sich folgender Befund: Die ersten drei Strophen singen ein Loblied auf die Heilstaten Gottes an seinem Volk – sie sind unverkennbar historisch geprägt; ihr Gegenstand ist die Heilsgeschichte. Dabei wird wie beiläufig in Vers 6 (2. Strophe!) auch erstmalig die Wohnung Gottes erwähnt – für die frühe Zeit war das nicht der Tempel, sondern das Bundeszelt. In der 4. Strophe rückt dann der Zionsberg ins Blickfeld, und zwar zu dem Moment, in dem der Herr ihn in Besitz nimmt. Die 5. Strophe ist dann wieder ein Preislied – auch diesmal wieder mit unüberhörbaren heilsgeschichtlichen Bezügen.
Die 6. Strophe kehrt wieder zum Thema der Besitzergreifung des Zionsberges zurück, und zwar mit der aus heutiger Sicht eher unvollständig und auch nebensächlich erscheinenden Aufzählung von Teilnehmern im Festzug. Die beiden letzten Strophen sind dann wieder Lieder – die achte eher ein Bittgebet, die neunte wieder ein zusammenfassender Lobgesang. Und beide mit einer Erwähnung des Tempels. Nach diesem so erschlossenen/vermuteten Roten Faden erscheint der Psalm als eine Darstellung der Heilsgeschichte Israels, die mit dem Auszug aus der ägyptischen Knechtschaft einsetzt und mit dem Einzug des Herrn auf dem Zion Hähepubnkt und Abschluß findet.
Nur eine Spekulation: Man kann sich gut vorstellen, daß ein solches Lied tatsächlich aus verschiedenen Vorlagen zusammengestellt worden ist und möglicherweise auch in einem liturgischen Rahmen alternierend von verschiedenen Chören vorgetragen wurde – ein Chor die Strophen, die eher die ganze Heilsgeschichte zum Gegenstand haben, ein anderer die, bei denen es eher um den Tempel geht. Als rote Faden, der alles miteinander verbindet, erscheint jedenfalls die Heilsgeschichte, und die Kirche als Erbin dieser Heilsgeschichte und dieses Psalms hat die Deutung und Bedeutung von Psalm 67 dann auch dadurch weitergeführt, das sie den Aufstieg der Bundelade zum Gottesberg mit der Ascensio Christi verglich oder gleichsetzte. So im Graduale zum Fest Christi Himmelfahrt, das Vers 18/19 zitiert (nach einer Übersetzung, die älter ist als die Vulgata): Dominus in Sina in Sancto, ascendens in altum, captivam duxit captivitatem. Ja, die Kirche hat sich die Psalmen Israels angeeignet – aber nicht als Diebstahl, sondern zu deren Erfüllung.
Randbemerkung: Für den Verwender der heutigen „Einheitsübersetzung“ ist das sicher verwirrend, aber die Liturgie hat nie das Bedürfnis empfunden, ihre Schriftzitate einheitlich aus der Vulgata zu nehmen. Vielfach greift sie auf ältere nicht in ihrer Gesamtheit erhaltene lateinische Übersetzungen zurück, die als "vetus latina" zusammengefasst werden.
In der oben als „Befund“ bezeichnete Zusammenfassung des „roten Fadens“ kommt der Umstand zu kurz, daß die einzelnen Teile, Verse und Strophen, aus denen wohl irgendwann um die Mitte des vorchristlichen Jahrtausend Psalm 67 zusamengestellt wurde, an mehreren Stellen noch Merkmale unterschiedlicher Herkunft an sich tragen. Die ganze 4. Strophe gehört dazu, die möglicherweise aus einem Siegeslied in ganz anderem Kontext stammt. Auf fremde Zusammenhänge verweisen wohl auch die „Empörer“, von denen es in der 2. Strophe (Vers 7) heißt, daß sie in dürrem Land wohnen müssen, und in der 5. Strophe: „Auch Empörer müssen wohnen bei Gott dem Herrn“.
Auch die sechste Strophe bringt einen Stolperstein mit sich, wenn sie dem Sieger verspricht: „Dein Fuß wird baden im Blut, die Zunge deiner Hunde ihren Anteil bekommen an den Feinden.“ In einem eher allgemeinen Gotteslob erscheint eine solche Aussage zumindest aus heutiger Sicht eher deplaziert und läßt sich noch am besten dadurch erklären, daß wohl die ganze Strophe aus einem älteren Triumphgesang übernommen wurde.
Rauh waren die Zeiten in der Epoche des 1. Tempels – und es ist keinesfalls ausgemacht, daß sie sich wesentlich verfeinert hatten, als Jesus das Gleichnis vom armen Lazarus erzählte, dessen Wunden die Hunde lecken.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
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