Salvum me fac — Ps. LXVIII (69)

Im Vordergrund Joseph, den seine Brüder gerade den reisenden (Sklaven)Händlern übergeben haben. Im Mittelgrund die Karvane der Händler mit mächtigen Kamelen - noch weiter hinten die Reminiszenz an die Szene, wie seine Brüfer Joseph im Brunnen einschließen.

„Ausgestoßen werde ich von den eigenen Brüdern, die Söhne meiner Mutter behandeln mich wie einen Fremdling.“ (69; 9)

Psalm 68 ist sogar noch einen Vers länger als der Vorgänger, enthält aber – zumindest auf sprachlicher Ebene – bei weitem nicht so gravierende Verständnis­schwierigkeiten wie dieser. Er ist das Bittgebet eines Menschen, der sich unschuldig verfolgt sieht und den Herrn um Rettung sowie Bestrafung der Feinde bittet. Im ersten Abschnitt (1 – 19) beschwört der Beter seine Unschuld und Frömmigkeit und bittet um Gottes Hilfe. Ein zweiter Teil (20 - 30) schildert die bösen Taten, mit denen die Verfolger ihm nachgestellt haben und fordert in kräftigen Worten Vergeltung – so kräftigen Worten, daß einige Verse (23 – 29) zu den „Fluchpsalmen“ gerechnet werden und daher im reformierten Stundengebet gestrichen worden sind. Der letzte Teil (31 – 37) enthält die in fast allen Bittpsalmen vorkommenden Danksagungen für die als sicher vorausgesetzte Erfüllung des Gebetes.

Die ersten Verse beschreiben in lebensweltlichen Bildern, die auch mit über 2000 Jahren zeitlichen Abstandes unmittelbar nachvollziehbar sind, die Gefühlslage eines Menschen, der sich rundum von Feinden umgeben sieht. Ab Vers 6 kommen dann theologische Überlegungen ins Spiel, die nicht mehr ohne weiteres selbst-verständlich sind. Zunächst räumt der Beter ein, daß er selbst nicht ohne Fehl und Tadel sei – doch offenbar übersteigt seine Not bei weitem das, was er wegen seiner Sünden verdient hätte. Sie erscheint ihm ungerecht, und er appelliert an Gott, doch nicht zuzulassen, daß durch eine solche offenkundige Ungerechtigkeit auch der Glaube von anderen in Gottes Güte und Gerechtigkeit erschüttert werde.

Mit Vers 8 deutet sich dann ein Perspektivwechsel an: Der Beter spricht nun mit David – der schließlich als Verfasser des Psalms galt – davon, daß er nicht wegen wegen eigener böser Taten verfolgt werde, sondern weil er in Erfüllung eines göttlichen Auftrags handelt. Dieser Wechsel wird jedoch nicht lange durchgehalten, zumindest erscheint es schwer vorstellbar, daß David, wenn er denn einmal in Bußkleidern durch eine Stadt gegangen sein sollte, dabei von Spottversen begleitet worden wäre. Durchaus denkbar aber ist das bei einem Stadtbewohner der späteren Zeit, der von seiner Umgebung – oft war es wohl gerade die Nachbarschaft – angefeindet wird. Die verleumderische Unterstellung von Übeltaten – ich soll zurückgeben, was ich nicht gestohlen habe – ist heute noch ebenso wie damals ein beliebter Bestandteil solcher Kampagnen.

Den frühen christlichen Erklärern ist dennoch der Perspektivwechsel zu David sehr wichtig, weil sie in dem hier als Verfasser angegebenen David ganz allgemeine die Vorgestalt des unschuldig verfolgten Christus erkennen und darin für diesen Psalm auch noch durch Vers 22 bestärkt werden: „für den Durst reichten sie mir Essig“. Wer müsste da nicht unwillkürlich an die Szene unter dem Kreuz am Karfreitag denken. Tatsächlig mag eine „Gabe“ von Essig mit zu den Gesten gehört haben, die ein öffentlicher Verhöhnung verfallener Jude der Mitte des vorchristlichen Jahrtausends erdulden mußte, und nicht nur bei Joh. 19, 29 ist bezeugt, daß Essig mit zum Instrumentarium römischer Kreuzigungstechnik gehörte: Er beschleunigte den endgültigen Kreislauf-Zusammenbruch des seit vielen Stunden gequälten Opfers.

Die christliche Deutung von Psalm 68, die in dem unschuldig der Schmach und der Verfolgung verfallenen Frommen eine Vorausschau auf den Kreuzweg des leidenden Heilands erblickt, ist als Analogie zweifellos berechtigt und für das Psalmengebet durchaus fruchtbar – auch wenn diese Deutung dem Verständnis des jüdischen Beters damals wie heute ganz und gar fern liegt. Das wird deutlich beim Blick auf die folgenden Verse 23 – 29, die entsprechend dem in den Psalmen waltenden Geist des Schuld-Ergehen-Zusammenhangs den Herrn um sichtbare Akte der Rache bitten, um die verletzte Gerechtigkeit wiederherzustellen. Hier also genau das Gegenteil der von Christus gelehrten und noch am Kreuz praktizierten Haltung. Nicht nur hier ist zu sehen: Die Parallelen zu Leben und Lehre Christi oder wenn man es denn so sehen will die „Prophetien“ sind nicht eindeutig oder linear – sie umkreisen ihren Gegenstand mehr, als sie ihn beschreiben.

Wenn man im Leiden des Gerechten und der Gabe des Essigs eine positive Vorausschau auf das Erlösungswerk Chrisi sehen kann, so enthält der folgenden Abschnitt eine negative, eine gegensätzliche Vorausschau: Der Opfertisch soll für die Bösen zur Falle werden – vielleicht so, wie es dem Korah und seiner Bande geschah, die frevelhaft an den Altar traten, obwohl sie kein Recht zum priesterlichen Opferdienst hatten (4. Mos. 16). Doch die Christen sind zur Versöhnung mit ihren Gegnern aufgefordert, bevor sie sich dem Opfertisch nähern (Math. 5,23). Und das „Rechne ihnen Schuld über Schuld an“ von Vers 28 klingt wie eine vorausgehende Absage an das „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, das der Erlöser am Kreuz sprach – bevor er den Essig nahm und starb. Das Gebet des Stephanus für seine Mörder klingt wie eine wörtliche Zurückweisung des Fluches von Vers 28 „Herr, rechne ihnen diese Schuld nicht an“ (Apg, 7, 60).

Der Tun-Ergehen-Zusammenhang (s. Auch Psalm 49) ist geradezu ein Dogma des alten jüdischen Glaubens, das in vielen Psalmen zum Ausdruck kommt: Nur wenn – wie das hier auch schon in Vers 7 vorausgesetzt wird – die Bösen möglichst spektakulär bestraft werden, ist für die Mernschen in der Umgebung klar erkennbar, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Von hier ist der Schritt zum Gottesurteil nicht weit. Tatsächlich gehören Formen des Gottesurteils – etwa die Verabreichung von „Bitterwasser“ an des Ehebruchs verdächtigte Frauen (Num 5, 11 ff) – zur Rechtspraxis des Alten Bundes. Entsprechend ihrer noch wenig entwickelten Vorstellungen vom jenseitigen Leben erwarten die Juden die Belohnung für die Guten und die Bestrafung der Bösen noch in diesem Leben, und dementsprechend ist das irdische Wohlergehen auch ein Gradmesser für die moralische Qualität und die Gottgefälligkeit der Lebensführung. Daß es den Frommen übel ergeht und die Bösen im Wohlstand leben und ihren Reichtum an die Söhne und Enkel vererben, ist in dieser Denkweise ein kaum erträglicher Skandal.

So macht Psalm 68 in großer Schärfe einen der Unterschiede im Gottes- und Menschenbild sichtbar, die das Judentum „vor Christus“ von dessen Vollendung „nach Christus“ trennen.

Das Christentum hat diese Sehweise zwar im Prinzip überwunden – spätestens im himmlischen Jerusalem des Jenseits wird jede Träne der Gerechten getrocknet (Offb 21,4) und erhalten die Bösen ihre gerechte Strafe (Offb. 21,8) – der Skandal findet nicht statt. Aber auch im Christentum haben sich Elemente der alttestamentarischen Engführung erhalten, wie an den mittelalterlichen Praktiken des Gottesurteils und der (früh)neuzeitlichen und von Calvin popularisierten Vorstellung zu erkennen ist, daß wirtschaftlicher Erfolg und Gnadenstand einander entsprechen.

Die Parallelen zwischen dem Glauben des alttestamentarischen Beters von Psalm 68 und der Verkündigung des neuen Bundes haben also durchaus ihre Grenzen. In Passagen wie dem „Fluchgebet“ der Verse 23 – 29 werden diese Unterschiede im Gottesbild und in der Erwartung des Erlösers auf drastische Weise deutlich. Wenn die Bearbeiter der nachkon­zi­li­aren Liturgia horarum diese Unterschiede durch Streichung der problematischen Ver­se (und der Fluchpsalmen überhaupt) aus dem Blickfeld rücken, mag das oberfläch­lich als eine Geste der Versöhnung oder der Wiedergutmachung für einen der Kirche unter­stellten „Antijudaismus“ zu sehen sein. Zu einem besseren Verständnis des schwierigen Verhältnisses zwischen den älteren und den jüngeren Söhnen Abrahams trägt es wenig bei, ist sogar eher kontraproduktiv. Es betrügt Juden wie Christen um einen Teil ihrer Entwicklung und Geschichte. Und es nimmt dem heutigen Beter eine Chance und einen Anstoß, im Gebet über den Balken im eigenen Auge nachzudenken.

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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