Deus in adjutorium — Ps. LXIX (70)

In einer Szenerie, die an einen Bauernhof des 18. Jh. denken läßt, bereitet vorne Gideon das Bittopfer für die Befreiung Israels von seinen Feinden. Hinter ihm steht ein Engel des Herrn, der ihm Anweisungen gibt, über beide wölbt sich ein gewaltiger sehr schief gewachsener und teilweise morscher Baum: Die Eiche des Joasch.

„Gott, höre auf mein Rufen; Herr, eile mir zu helfen.“ (69; 2)

Der sehr kurze Psalm 69 (70) erscheint vom Inhalt her wie eine Kurzufassung des Haupt­ge­dankens von 68: Die Verfolger und Anschuldiger des Schuldlosen sollen vor aller Welt ihres Un­rechts überführt werden, und die Frommen sollen daraus in ihrem Glauben an die Gerech­tig­keit des Herrn bestärkt werden. Auch die Form bietet auf den ersten Blick wenig Besonderes: Den Antfang bildet eine für Bittpsalmen typische Wendung, die mit der Wendung „Eile, o Gott mir zur Hilfe“ im Schlußvers wieder aufge­griffen wird. Der Schluß selbst ist insofern etwas untypisch, als der sonst häufig vorausgenomme Dank für die Erfüllung der Bitte hier fehlt.

Die eigentliche Besonderheit von Psalm 69 besteht jedoch darin, daß er in sämtlichen Traditionen nahezu wörtlich mit den Schlußversen (14 – 18) von Psalm 39 überein­stimmt. Darüber, wie diese Doppelung zustande gekommen sein könnte, gibt es zahlrei­che gelehrte Theorien – die für den Beter eher bedeutungslos sind. Als allgemeines Bitt­gebet können die wenigen Zeilen von Psalm 69 auch alleine stehen.

Wer Brevier und Psalmen in lateinischer Sprache betet, erkennt im ersten Vers von Psalm 69 das sogenannte „Invitatorium“, mit dem die Kirche jeden Tag ihr Stundengebet einleitet: „Deus, in adjutorium meum intende, Domine, ad adiuvandum me festina.“ Ob diese Bitte auch im Alten Bund als eine Art Standardformel zur Gebetseinleitung gebraucht wurde, geht aus den Psalmen nicht hervor. Tatsächlich hat die Kirche jedoch mehrere ihrer Standardformeln aus Psalmversen übernommen, worauf an entsprechender Stelle kurz einzugehen sein wird.

Ein besonderes Interesse verdient auch die Überschrift dieses Psalms. Im hebräischen Standardtext und ebenso in der griechischen Tradition enthält sie eine Wendung, die meist mit „um in Erinnerung zu bringen“ übersetzt wird – was dem Verständnis wenig hilfreich ist. In antiken aramäischen Übersetzungen (Targum) steht an dieser Stelle „zum Weihrauchopfer“, und das wird auch von vielen alten und neuen deutschen Übersetzungen so gebracht. Damit ist nach alter Überlieferung nicht das feierliche Weihrauchopfer im Heiligtum des Tempels gemeint, sondern ein „Arme-Leute-Opfer“, das aus einer Mischung von Getreide und Weihrauch bestand und von Männern, die sich kein Tieropfer leisten konnten, zum allgemeinen Opferaltar im inneren Hof des Tempels gebracht wurde.

Wenn diese Erklärung zutrifft, wäre das ein Hinweis darauf, daß nicht nur der Dank für die Erfüllung von Bitten mit Opfern verbunden war (dann opfere ich fette Stiere auf deinem Altar), sondern auch bereits das Vorbringen der Bitte selbst. Und das wiederum könnte verständlich machen, warum dieser kurze Psalm aus dem längeren Psalm 39 „ausgekoppelt“ worden sein könnte: Vielleicht als Gebetsformel, mit der die Opferspender ihre Gaben den Priestern oder Leviten überreichten, die alleine befugt waren, diese Gabe auf den Brandopferaltar zu legen.

Eine solche Herleitung würde sehr gut zu der ansonsten etwas willkürlich erscheinenden traditionellen Erklärung passen, die Psalm 69 als Gebet Christi zum Beginn seiner schmachvollen Kreuzigung und zur Einleitung seines Selbstopfers deutet.

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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