In te Domine speravi — Ps. LXX (71)

Der Holzschnitt zeigt rechts im Licht König Salomo und Gefolge, wie er den Bauleuten die Pläne erklärt. Salomo selbst wird dabei von einem Strahl göttlicher Eingebung erleuchtet - die Bauleute bleiben im Halbschatten

„Ich will kommen in den Tempel des Herrn und seine Taten allezeit preisen.“ (70; 16)

Psalm 70 beginnt nach der Überschrift in den Versen 1 – 8 zunächst wie ein ganz allgemeiner Bittpsalm – tatsächlich stimmen die ersten drei Verse fast wörtlich mit der Einleitung des Bittpsalms 30 überein. In seinem zweiten Teil nimmt Psalm 70 dann jedoch einen ganz eigenen Charakter an: Er erscheint als der Bittpsalm eines alten Mannes, der seine Kräfte schwinden sieht und befürchten muß, daß seine Feinde – ohne solche reichlich zu erwerben, konnte wohl kein Jude des Altertums sein Leben führen – die einsetzende körperliche und gesellschaftliche Schwäche nutzen, um mit ihm abzurechnen.

Beginnend mit Vers 17 wandelt sich das Bittgebet dann zu einem Gebet des Lobes und des Dankes für die Wohltaten, die der Beter im Lauf seines Lebens vom Herrn erfahren hat. Die letzte Strophe (20 – 24) ist schließlich ganz von diesem Dank erfüllt und läßt zumindest als Vorahnung durchscheinen, daß dieser Dank und Jubel nicht mit dem Tod enden wird, sondern eine Ewigkeit lang anhalten wird.

Die in diesem Ablauf angedeutete Dreiteilung wird jedoch nicht engherzig in der Abfolge der Strophen umgesetzt. Schon im ersten Vers wird das Wort „in Ewigkeit“ ausgesprochen, und die Verse 5 und 6 betonen mit dem „von Jugend an“, ja „von Geburt an“, daß es weniger um ein Gebet in einer konkreten Situation geht, sondern um den Rückblick auf ein ganzes Leben und seine Fortdauer in der Ewigkeit, dessen Perspektive dann in den Versen 14 und 15 erneut angedeutet ist. Diese Perspektive nimmt dann in der Folge immer mehr Raum ein und wird nur in Vers 20 noch einmal durch eine kurze Erinnerung an Nöte der Vergangenheit unterbrochen, die mit Gottes gnädiger Hilfe überwunden werden konnten. In dieser kunstvollen Verschränkung von Rückblick und Vorausschau liegt die große poetische Qualität dieses Psalms, der sich von daher auch dem Christen jedes Lebensalters und jeder Zeit als Ausdruck der Bitte, des Lobes und des Dankes für ein gottgesegnetes Leben anbietet.

Im Übergang von Vers 15 zu Vers 16 zeigen die verschiedenen sprachlichen Traditionen und deren Übersetzung einige Abweichungen, die allerdings das Verständnis im großen Zusammenhang kaum beeinträchtigen. Ihr gemeinsamer Sinn scheint dahin zu gehen, daß der Beter sich dessen bewußt ist, daß er die Wohltaten, die Gott ihm erwiesen hat, weder zählen noch beschreiben kann und deshalb seine Größe und Stärke staunend (und wortlos?) anbeten will. Woher die immer noch weit verbreitete (und in vielem durchaus brauchbare) Einheitsübersetzung 1980 hier den Satz hat: „Ich will kommen in den Tempel Gottes des Herrn“ ist völlig unerfindlich und wird auch in der uns erreichbaren Literatur nirgendwo gestützt. Die neuere Version von 2016 hat dann wieder ein leichter mit den bestehenden Textfassungenen vereinbares „Ich komme wegen der Machttaten Gottes, des Herrn“.

Psalm 70 ist so tief im allgemeinen Empfinden eines noch unerlösten, aber doch in frommer Gottesfurcht lebenden Menschen verankert, daß es den allegorischen Interpreten unter den Kirchenvätern einigermaßen schwer gefallen ist, ihn als prophetische Vorausschau auf Christus zu deuten. In der Matutin des Gründonnerstags legt die Kirche Verse daraus dem leidenden Erlöser in den Mund; in der ersten Nokturn zum Fest der sieben Schmerzen Mariens der von vielfachem Leid geprüften und dennoch im Glauben niemals wankenden Gottesmutter: Jede betende Menschenseele kann hier ihren Ausdruck finden.

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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