Deus judicium tuum — Ps. LXXI (72)

Die wunderbare Brotvermehrung: Jesus und seine Jünger/Helfer verteilen vom Brot und den Fischen.

„Er erbarmt sich des Gebeugten und Armen und rettet die Seelen der Schwachen“ (71; 13)

Psalm 71, mit dem das zweite Buch der Psalmen seinen großartigen Abschluß findet, ist ein feierlicher Lobgesang auf den König Israels und der ganzen Welt, der spätestens seit dem Untergang des doch recht bescheidenen jüdischen Königtums kaum anders verstanden und gebetet worden sein konnte denn als Ausdruck der Erwartung des Messias. Eines Messias freilich, von dem man nicht nur die Erlösung von Sünde und geistiger Not erwartete, sondern vor allem die Errichtung eines Königtums von Wohlstand und Gerechtigkeit, eines von starken irdischen Erwartungen geprägten Gottesreiches. Gnade zu finden vor Gott und irdisches Glück, Macht und Reichtum, hängen im Berwußtsein der vorchristlichen Juden nun einmal untrennbar miteinander zusammen.

Die messianische Perspektive ist hier ganz eindeutig nicht erst eine späte Interpretation der christlichen Erklärer – auch die jüdischen Verfasser der Targumin, also der Bibelübersetzungen in aramäischer Sprache im zweiten und dritten Jahrhundert vor Christus, etwa zur gleichen Zeit wie die Entstehung der Septuaginta, haben Psalm 71 bereits nicht als Erinnerung oder Beschwörung von etwas Vergangenem, sondern als Loblied in der sicheren Erwartung des Messianischen Königtums verstanden. Die christlichen Erklärer standen voll in der Tradition dieser inner-jüdischen Entwicklung, auf der Grundlage der Ofenbarung Christi und der Lehre der Kirche das Verständnis dieses Psalms über das Irdische hinauszuheben und und auf das Königtum Christi hin zu deuten.

Das schließt nicht aus, daß Psalm 71 in größeren Teilen Verse enthält, die wohl bis in die Zeit des historischen jüdischen Königtums zurückgehen und zu besonderen Festlichkei­ten – etwa bei der Thronbesteigung oder einem Jubiläum – in einem liturgischen Rahmen gesungen wurden. Und das schließt auch nicht aus, daß solche Teile auf Vorbil­der der Königshöfe größerer und mächtigerer Reiche der Umgebung zurückgehen, was zu betonen der historisch-kritischen Bibelwissenschaft sehr wichtig ist – als ob das der messianischen Grundrichtung dieses Psalmes irgendwie Abbruch tun könnte. Aber wo denn sonst hätte der Kleinstaat Israel seine Vorbilder nehmen können? Bei den Ägyptern, den Babylonier und Assyrern war sowohl für die Völker als auch im Selbstverständnis der Könige jede Herrschaft nur im Auftrag Gottes oder der Götter – christlich/neuzeitlich ausgedrückt „von Gottes Gnaden“ – denkbar. Das alte Israel war in vielem ganz und gar in das Denken seiner Zeit eingebettet – wenn auch manchmal nicht in Übereinstimmung, sondern im Widerspruch.Und so beginnt Psalm 71 ganz folgerichtig mit einer Anrufung des Allmächtigen: „Gott, verleih’ Dein Richteramt dem König.“

Zu dieser ersten Zeile sind zwei Anmerkungen angebracht. Zunächst wird hier Gott nicht mit seinem persönlichen Namen „Jahweh“ angesprochen – was man eigentlich da, wo es um den König Israels geht, erwarten könnte – sondern mit der allgemeineren Bezeichnung „Elohim“; Septuaginta und Vulgata verfahren entsprechend. Es bestand also – so kann man vermuten – an dieser Stelle, so sehr sie auch von der „Königstheologie“ umgebender Völker abhängig gewesein mochte, kein besonderes Bedürfnis, sich von diesen Völkern und ihren Göttern abzusetzen. Anders scheinen das einige Übersetzer (z.B. Gunkel) zu empfinden, die hier „Jahweh“ schreiben – obwohl das in keiner Originalvorlage so dasteht. Vielleicht hat das ganze auch mehr formalen als inhaltlichen Hintergrund: Während in den ersten 40 Psalmen Gott generell als „Jahweh“ angesprochen wird, herrscht im zweiten 40er-Block die Anrede „Elohim“ vor, stellenweise gibt es sogar Anzeichen dafür, daß Bearbeiter bei einigen Psalmen dieses zweiten Blocks ein ursprüngliches „Jahweh“ in „Elohim“ umgeändert haben, um mehr Parität zwischen beiden Sprechweisen, die auf verschiedene Überlieferungsstränge zurückgehen dürften, herzustellen.

Die zweite Anmerkung bezieht sich auf das Wort, das wir hier in Anlehnung an die Einheitsübersetzung mit „Richteramt“ wiedergegeben haben. Andere Übersetzungen haben hier „Rechtssprüche“, „Gerechtsame“ oder „Gericht“ – alles nicht zu beanstanden, aber doch unvollständig. Ebenso wie das deutsche „richten“ hat das zugrundeliegende hebräische Wort jeodch nicht nur die Bedeutung „ein Urteil fällen“, sondern etwas (das vorher falsch und krumm war), „richtig“ zu machen. In der frühen Zeit hatte Israel so keine Könige, die „herrschten“, sondern eben „Richter“, die als Knechte Gottes dafür sorgten, daß alles „richtig“, d.h. nach dem Willen Gottes gemacht und gestaltet wurde. Das „jüngste Gericht“ ist daher nicht nur der Tag, an dem das Urteil gesprochen wird, sondern alles „richtig“ gemacht wird, was vorher von Menschen „falsches“ gemacht oder erlitten worden ist. Dieser Richter „wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen...Seht, ich mache alles neu“ (Offb. 21; 4,5) Der Übergang vom „Richteramt“ zum Königtum war daher für die Regenten Israels vielleicht ein Gewinn an an Macht und Prestige. Für ihre Stellung im Dienst des Herrn bedeutete er einen Verlust – und diesen Verlust versucht Psalm 71 im ersten Vers zumindest teilweise wieder wettzumachen.

Noch eine weitere Anmerkung ist sinnvoll hinsichtlich der „Armen“, „Gebeugten“ oder „Elenden“, von denen in den Versen 2, 4, 12, und 13 die Rede ist. Entsprechend der starken irdischen Komponente, die sich mit der Erwartung des Messias verband, sind diese Übersetzungen durchaus nicht falsch – aber sie lassen doch die geistige, die heilsgeschichtliche Dimension, die hier mit angesprochen ist, unberücksichtigt. Die Armen der Psalmen sind eben nicht nur diejenigen, die materielle Not leiden und für die eine besondere „Armentheologie“ (Erich Zenger) entwickelt wird, die nicht zufällig so ähnlich klingt wie „Befreiungstheologie“. Die „Armen“ der Psalmen sind auch und vor allem die „in Finsternis und Todesschatten sitzen“ und die auf Erlösung und Erleuchtung hoffen, „um ihre Schritten hinzulenken auf den Weg des Heils“. (Lucas 1, 46-55). Der Lobgesang Mariens ist zwar im Neuen Testament überliefert – aber sein Geist ist ganz der des Alten Testaments auf der höchsten Stufe „als die Zeit erfüllt war“.

Nachdem diese Stolpersteine aus dem Weg geräuimt sind, erschließt sich der Sinn und die Aussage von Psalm 71 jedem, der nicht taub und blind für poetische Sprache und Bilder ist, fast von selbst. Der erwartete König schafft Recht und Heil dem ganzen Land und der ganzen Erde. Alle Könige und alle Reiche müssen ihm huldigen, ihm gehören alle Schätze und alle Reichtümer der Schöpfung. Seine Herrschaft währt bis ans Ende der Welt und der Zeit. Sie befruchtet die Erde wie lebenspendendes Wasser. Sein Erbarmen richtet sich nicht nur auf die leibliche, die irdische Not, auch die Seele derer, die leiden „in Finsternis und Todesschatten“, wird er erlösen (Vers 12-14).

An einigen wenigen Stellen (z.B. Verse 14 und 15) ist der Gedankenganz durch schwierige Wörter und gewagte Bilder nicht ganz sicher zu erschließen – die christlichen Erklärer gehen dabei in der Parallelisierung mit Leben und Erlösungswerk Christi weiter, als der skeptische Sinn heutiger Weltleute ihnen zu folgen bereit ist. Aber an den großen Linien ändert das wenig: Dieser König ist nicht nur Fürst von Jerusalem und umliegenden Ortschaften, sondern der Herr und Heilsbringer der ganzen Welt.

Der Schluß (Verse 18 – 20) enthält dann die ausführlichste Doxologie des ganzen Psalters, die sowohl den Abschluß von Psalm 71 bildet als auch das Ende des zweiten Buches markiert. Und erst in diesen Schlußversen (Vers 18) wird dann auch der eingangs vermißte Name Gottes genannt oder zumindest geschrieben: „Gepriesen sei Jahweh, Israels Gott.“

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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