Quam bonus — Ps. LXXII (73)
„Auch wenn mein Leib und mein Geist verschmachten, Gott ist mein Herz und mein Anteil in Ewigkeit.“ (72; 25)
Mit Psalm 72 beginnt das kurze Dritte Buch (bis 88) der Psalmen, das letztlich nur um ein einziges großes Thema kreist: Die Klage um das Elend in der Welt im Allgemeinen und um die vielfachen Nöte und Katastrophen des persönlichen Lebens. Vor allem aber um den Verlust des Tempels und der Heimat. All das fließt zusammen in der Frage nach Gottes Gericht und Gerechtigkeit. Genau diese Frage bildet dann auch den Gegenstand von # 72 und markiert so quasi den theologischen Einstiegspunkt in das Buch der Klagelieder. Damit gehört Psalm 72 mit # 36 und # 48 und ernigen weiteren zu denjenigen, die sich mit einem der Grundprobleme des jüdischen Glaubens beschäftigen: Dem Widerspruch zwischen derr Überzeugung von der Güte Gottes und seiner Schöpfung – die sich unter anderem im immer wieder beschworenen Zusammenhang von Tun und Ergehen ausdrückt – und der unbestreitbaren Lebenserfahrung, daß es oft den Bösen gut geht, während die Frommen leiden und gar von den Bösen unterdrückt, ausgeraubt und ermordet werden.
Zu dieser schwierigen theologischen Frage tritt erschwerend hinzu, daß die textlichere Überlieferung von Psalm 72 sowohl in der hebräischen als auch in der griechisch/ lateinischen Tradition einige der gefürchteten „schwierigen Stellen“ aufweist, bei denen ein wörtliches Verständnis kaum möglich ist und wo dann die Herausgeber der Texte und die Übersetzer Zuflucht bei interpretierenden Korrekturen der Textvorlage nehmen.
Teilweise belastet das auch die Übersetzungen. Die Einheitsübersetzung von 1980 ging beim Versuch der Textverbesserung so weit, die Reihenfolge einiger Verse umzustellen, um das Verständnis zu erleichtern. Sie zieht nach dem Vorbild älterer historisch-kritischer Bearbeiter die Verse 21 und 22 zwischen 14 und 15. Das macht den Gang der Gedanken tatsächlich glatter, kann sich aber soweit wir sehen auf keinerlei textliche Überlieferung stützen. Die Version von 2016 hat diese Umstellungen wieder rückgängig gemacht und dafür – was sie sehr selten tut – an mehreren Stellen Anmerkungen eingefügt, die auf den interpretierenden Charakter ihrer „Übersetzung“ hinzuweisen. Daraus ist zu erkennen, daß beide EÜ-Versionen dabei auf das bereits von der Septuaginta gebotene Verständnis von „schwierigen Stellen“ des hebräischen Textes zurückgreifen, freilich ohne das zuzugeben.
Für den Beter, der sich nicht mit den sprachlichen Details befassen will (und das auch nicht muß), ist bei diesem Psalm (in der EÜ hat er nach hebräischer Zählung die Nummer 73) ausnahmsweise die 2016er Version besser geeignet als die von 1980. Die meisten Übersetzungen nach der Vulgata wirken demgegenüber hier umso holpriger, je mehr sie sich bemühen, nahe am Text zu bleiben. Nennenswerte inhaltliche Unterschiede gibt es dabei freilich nicht – sieht man einmal davon ab, daß die Einheitsübersetzung von 1980 mit ihrer Übersetzung von Vers 25/26 als „auch wenn mein Leib und mein Herz verschmachten“ eher auf andauerndes irdisches Ungemach hinzudeuten scheint, während die hebräische und die griechisch/lateinische Version ganz deutlich vom Vergehen, vom Sterben sprechen. Die EÜ 2016 hat auch das korrigiert.
Trotz des Problems der Verse 21 und 22 weist Psalm 72 eine klare inhaltliche Gliederung auf. Nach einem mit geradezu dogmatischer Schärfe hingestellten Einleitungssatz (V. 1) , der die Gütte Gottes nachgerade beschwörend feststellt, folgt ein erster Teil (V. 2 – 12) , der diese Güte und Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen scheint: Allzuoft hat der Beter erlebt, daß es den Bösen gut geht, daß ihr gotteslästerliches Verhalten keine Strafe nach sich zieht, sondern anscheinend auch noch mit Glück und Reichtum belohnt wird. Im Gegensatz dazu – so schildert es der zweite Teil mit den Versen 13 – 22 – ist es dem Beter trotz aller Bemühungen um ein gottgefälliges Leben oft übel ergangen, und das gleich auf zweifache Weise: einmal, weil er sich „jeden Morgen gezüchtigt“ sieht, sei es durch Krankheit, sei es durch Armut oder andere Schicksalsschläge, und zum zweiten, weil diese Erfahrung sein vom Tun-Ergehens-Zusammenhang geprägtes Gottesbild schmerzhaft in Frage stellt. Erst „im Heiligtum Gottes“ – das kann ein inständiges Gebet bezeichnen, aber auch auf eine mystische Erfahrung oder eine Eingebung des Geistes verweisen – kommt er zu der Erkenntnis, daß dieses Wohlergehen der Bösen nicht von Dauer ist, sondern zu einem schrecklichen Ende führt. Es fällt schwer, in diesen Versen 18 – 20 nicht eine Vorahnung dafür zu sehen, daß die Güte und Gerechtigkeit Gottes nicht mit dem irdischen Leben enden, sondern daß es ein „Danach“ gibt, in dem die Gottlosen die verdiente Strafe erhalten.
Der dritte und letzte Teil (Verse 23 – 28) wendet diese Einsicht dann folgerichtig auch auf die Frommen an an, denen sich der Beter von Psalm 72 zurechnet, so daß er in Ich-Form sagen kann: Ich aber bleibe immer bei Dir, und Du nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit. Nur an wenigen Stellen kommt der Psalter, ja kommt das ganze Alte Testament, der schließlich von Christus geoffenbarten Lehre vom Ewigken Leben so nahe wie in diesen Versen von Psalm 72. Und er entfaltet von diesem ewigen Leben ein Verständnis, das weit über alle manchmal etwas naiv Vorstellungen vom Paradies, wie sie zeitweise auch im Christentum entwickelt worden sind, hinausgeht: Gott nahe zu sein und sein Lob zu verkünden ist der Lohn derer, die seine Gebote achten. Eine Besonderheit dieses Psalm besteht darin, daß der Beter hier nicht wie sonst in vielen Klage- und Bittpsalmen seinen Gefühlen freien Lauf läßt oder gar zu Verfluchungen gegen die Gottlosen greift, sondern ein hohes Maß an Reflektion und Selbstdistanz an den Tag legt.
Hier findet sich keine Spur von der sonst des öfteren auftretenden pharisäischen Selbstzufriedenheit (s. dazu Psalm 37), sondern hier begegnen wir einem Menschen, der um die eigene Fehlbarkeit und Verführbarkeit weiß (fast wären meine Füße gestrauchelt) und der zumindest ahnt, daß er nicht aus eigener Kraft dier Versuchung widerstehen konnte, sondern durch den „Eintritt ins Heiligtum Gottes“, durch göttliche Gnade, wie man das wohl lesen darf, über den Status eines unvernünftigen Tieres hinaus gehoben wurde. Dazu passt dann auch, daß der Beter sich nicht am schrecklichen Ende der Frevler und Gottlosen erfreuen kann, wie das etwa etwa in Psalm 67, 24 anklingt, daß er ein solches Ende auch nicht durch eigenes Fluchgebet herbeiführen will, sondern nüchtern erkennt: So entspricht es dem Willen und dem Wirken des Herrn. Und so endet der Psalm denn auch nicht in einem selbstgefälligen Auftrumpfen, sondern in einer dreifachen Anrufung Gottes und der Bekundung des Vertrauens in sein Wirken. Im hebräischen Schriftbild sehr schön ausgedrückt durch die Ansammlung aller drei Gottesnamen in einem Satz: Der Gottheit (elohim) nah zu sein ist mein Gut, auf den Herrn (adonai) Yahweh (der unaussprechliche persönliche Name) setze ich mein Vertrauen.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
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