Ut quid Deus — Ps. LXXIII (74)

An einem Abschnitt der Stadtmauer sitzen jämmerliche Gestalten, einige noch in Spuren vergangenen Reichtums gekleidet, und beklagen die über die heilige Stadt gekommene Zerstörung.

„Deine Widersacher prahlten bei Deinem heiligen Feste und errichteten ihre Siegeszeichen “ (73; 4, 5)

Dieser Psalm ist ein großes Klagelied auf die Erobe­rung Jerusalems und den Verlust des Ersten Tempels in den Jahren 587/586, nach dessen Ende große Teile der Oberschicht und der Handwerkerschaft in die „babylonische Gefangenschaft“ weggeführt wurden. Ob der Psalm im bzw. nach dem Exil (wie Psalm 137) oder in den Trümmern des zerstörten Jerusalem entstanden ist, bleibt ungewiß. Da jedoch nirgendwo von der Gefangenschaft die Rede ist und einige Verse (insbesondere V. 20) so klingen, als ob sie inmitten der Zerstörung entstanden seien, ist wohl das Letztere wahrscheinlich. Außerdem war die Wegführung der Israeliten kein einmaliger Akt, sondern erfolgte in mehreren Wellen. Das traumatische Erlebnis von Verlust des Tempels und der Heimat hat das kollektive Bewußtsein Israels auch noch in dern späteren Jahrhunderten, in denen die Psalmen aufgezeichnet wurden, bestimmt und wurde erst dann abschließend „historisiert“, als auch der zweite und letzte Tempel im Jahr Zeit 70 – also wenige Jahrzehnte nach dem Kreuzestod des Erlösers – zerstört worden war.

Psalm 73 besteht aus drei Teilen, die sowohl vom Inhalt her als auch nach der Form klar gegeneinander abgesetzt sind. Der erste Teil (1 – 11) beginnt mit dem in Frageform gekleideten Klageruf: „Warum, o Gott, hast Du uns für immer verstoßen?“ und endet mit der weiteren Frage: „Warum entziehst Du uns Deine (schützende) Hand und hältst die (zum Kampf gebrauchte) Rechte im Gewand verborgen?“ Die Verse dazwischen (3 – 8) beschreiben die Gräuel der Verwüstung, sie sind eingerahmt durch die Verse 2 und und 9/10, die die Erinnerung an eine glücklichere Vergangenheit aufrufen und – zunächst noch sehr zögerlich – die Hoffnung anklingen lassen (10), daß der Zustand der Versto­ßenheit doch ein Ende finden könne: Hier heißt es nicht mehr „für immer“ wie am Anfang, sondern gleich zwei mal: „wie lange noch?“.

Zumindest einer der Verse in diesem Teil läßt die Vermutung aufkommen, daß hier noch eine Erinnerung an frühere Gewalttaten und Zerstörungen mitschwingen könnte, wenn es in Vers 8 heißt: Und sie verbrannten alle Gottesstätten ringsum im Lande. Theoretisch hätte es zur Zeit der Eroberung durch die Babylonier keine „Gottesstätten“ mehr ringum im Lande geben sollen, denn diese – seien es Regionaltempel, seien es Gotteshaine gewesen – waren endgültig mit den Reformen König Josias (640 – 609) abgeschafft und dem Brauch der Zeit entsprechend sicher auch zerstört worden. In vielen dieser „Gottes­tätten“ war nämlich nicht dem wahren Gott Israels Jahweh, sondern „fremden Göttern“ gehuldigt worden.

Das ganze Alte Testament wird von Zeugnissen dieses Kampfes zwischen dem „eifer­süchtigen Gott“ (Deuteronominun 5, 9) Jahweh und den konkurrierenden Lokal- oder Naturgottheiten durchzogen – der Übergang vom naturwüchsigen Polytheismus zum geoffenbarten Ein-Gott-Glauben war ein langwieriger und vielfach auch schmerzhafter Prozess, und die Könige Israels haben darin eine nicht immer ruhmreiche Rolle gespielt. Josias Vorgänger Manasse (696 – 641) hatte den Kult in den Hainen, der schon vorher getreu den Geboten Jahwehs mißbilligt und verboten worden war, wieder hergestellt und sogar Altäre für Baal und ein hölzernes Götterbild (im hebräischen Text steht hier „Asherah“!) im Tempel zu Jerusalem aufstellen lassen, die dann von Josia wieder abgerissen wurden. Zerstörungen von Schnitzwerk (V. 6) waren im Tempel auf dem Zionsberg keine einmalige Erscheinung.

Schwer zu sagen, inwieweit eine Erinnerung daran in den angeführten Versen des ersten Teiles mitschwingt – falls ja, könnte darin eine indirekte Antwort auf das „Warum?“ des ersten Verses liegen. Der „eifersüchtige Gott“ Israels war nicht dafür bekannt, Fremdgänge seines auserwählten Volkes leichten Herzens hinzunehmen. Von diesem Gedanken her gewinnt der zweite Teil ( 12 – 17) seine besondere Stoßrichtung: Er ist Ausdruck einer in geradezu beschwörendem Ton vorgetragenen Beteuerung der Treue des Psalmisten – da darin für das ganze Volk sprechen will – zu seinem Gott, seinem König von alters her. Dieser Gott hat sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreit und druch das rote Meer geführt und so von den Monstern der Vorzeit (oder der Gier der Sklavenhalter) befreit. Letztlich seinem Volk und der ganzen Menschheit zu liebe hat er die Welt und das Universum erschaffen – soll das alles umsonst sein und nun mit dem Untergang des Zionstempels sein Ende finden?

Auf diese Frage kann es nur eine Anwort geben, „nein – das kann nicht sein!“ - und der dritte Teil unternimmt es, den Herrn der Schöpfung in sechs Versen, die alle mit einem kraftvollen Imperativ beginnen, auf genau diese Antwort festzulegen. Der psalmisdt verfolgt dazu zwei Strategien: Zum einen erinnert er Israel Gott Jahweh an seinen ursprünglichen Plan: Blick hin auf Deinen Bund!“. Zum anderen versucht er, dem anthropomorphen Gottesbild der Zeit entsprechend, den Herrn der Schöpfung quasi „bei seiner Ehre zu packen“: Der Feind schmäht Dich! Lass die Bedrückten nicht zugrunde gehen – die Armen und gebeugten sollen Deinen Namen rühmen! Hilf uns wieder auf – denn es geht um Deine Sache, Deine Ehre steht auf dem Spiel!. Gönn Deinen Feinden nicht diesen Triumph! Wenn auch das Gottesbild heutiger Christen über dieses Stadium hinaus ist bzw. sein sollte – als Ausdruck des gläubigen Gottvertrauens und der Tatsache, daß Gott keine blinde Macht, sondern (auch) die Vernunft selbst ist, behalten diese Verse auch nach 2500 Jahren ihren Wert.

Zuletzt sei hier noch angemerkt, daß Vers 20 wohl als Hinweis darauf zu verstehen ist, daß dieser Psalm tatsächlich nicht erst im Exil oder sogar noch später entstanden ist sondern unmittelbar die Situation und Stimmungslage im besiegten Königreich zum Ausdruck bringt: Nach dem Verlust von Königtum und Tempel ist die frühere Ordnung verloren, das ganze einst Gelobte Land ist voller Schlupfwinkel für böse Menschen und Dämonen.

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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