Confitebimur tibi — Ps. LXXIV (75)

Der Stich aus L'Histoire gibt eine taditionelle Darstellung der Heimsuchung Mariä, des Besuches der schwangeren Gottesmutter bei ihrer ebenfalls schwangeren Verwandten Elisabeth. Wieso ausgerechnet dieses Bild hier präsentiert wird, erklärt der letzte Absatz des Textes.

„Nein, der Richter ist Gott - den einen erniedrigt er, den anderen erhöht er.“ (74; 8)

Dieser Psalm enthält in seinen wenigen Versen – es sind nur elf – eine ganze Reihe von Schwierig­keiten, die darauf zurückgehen, daß schwer zu bestimmen ist, wer und wie viele Personen jeweils als der Ich-Sprecher gemeint ist. Gram­ma­tisch eindeutig sind das zunächst die Verse 3 – 5 sowie 10 und 11. Aber auch die Verse 6 – 8 lassen sich logisch an die Ich-Form von Vers 5 anschließen, und für Vers 9 ist das zumindest denkbar. Am nachvollziehbarsten erscheint noch der Ansatz, den ganzen Psalm als den Vortrag eines Priesters oder Propheten zu sehen, der in einigen Passagen im eigenen Namen spricht, in anderen die Stimme Gottes verkörpert und in wieder anderen mit prophetischem Wissen über Gott spricht. Dabei muß man sich dieses „Rollenspiel“ nicht so klar und logisch aufgebaut vorstellen, wie wir das heute gerne hätten: Nur in wenigen Versen werden Aussagen gemacht, die eindeutig nur mit Gott als dem Handelnden Sinn ergeben, denn ein Prophet kann weder die Säulen der Erde befestigen (4) noch selbst die Macht der Sünder zerbrechen (11). In den anderen Ich-Versen können der Prophet als das Sprachrohr Gottes und die Stimme des Herrn in eins fallen. An den heutigen Leser oder Beter, der an eine saubere Trennung dieser Rollen gewöhnt ist, stellt das keine geringe Anforderungen.

Dazu kommt das inhaltliche Problem, das immer da auftritt, wo die Psalmen von Gottes Gericht sprechen. Christen denken dabei unwillkürlich an das „Letzte Gericht“ am Ende der Zeiten. Bei den Juden konnte das Gericht Gottes auch einen Eingriff Gottes in der Zeit bedeuten, mit dem der Herr und Lenker der Weltgeschichte oder der König als sein Beauftragter etwas, das falsch gelaufen ist, wieder richtig macht. Gott dabei zu dienen, war schließlich genau die Aufgabe sowie des Prophetenamtes als auch des Königs. Schließlich hatte Israel in der ersten Zeit ja überhaupt keine Könige, sondern nur die in diesem Sinne verstandenen „Richter“: Die „Richtigmacher“.

Ein weiteres Problem verbindet sich mit dem hebräischen Wort „qar“, das in der Septua­ginta stets mit „keras“ und der Vulgata mit „cornu“ (Horn) wiedergegeben wird, was beides wörtlich ziemlich eindeutig „Horn“ bedeutet. Leider ist „qar“ aber sehr vieldeutig. Es kommt in Psalm 74/75 vier mal vor (V. 5, 6, zweimal in 11) und wird in der Einheits­übersetzung von 1980 drei mal mit „Macht“ und einmal mit „Haupt“ wiedergegeben. Die Version von 2016 schreibt jedesmal „Haupt“, die modernisierte Lutherübersetzung hat zwei mal „Macht“ und zwei mal „Gewalt“. Nichts davon ist falsch – aber was davon ist wirklich richtig? „qar“ bedeutet wohl ursprünglich tatsächlich Horn – und zwar nicht das als Blasinstrument genutzte gewundene Widderhorn (schofar), sondern das nur in einer Richtung gekrümmte Horn des Stieres.

Der Stier war noch lange, nachdem seine göttliche Verehrung (goldenes Kalb!) überwun­den war, Sinnbild der Macht und Kraft. Sein Horn diente wohl vor allem beim Militär als Signalhorn und als Feldzeichen: Hier gab es die Richtung und den richtigen Zeitpunkt an. Hornförmige Spitzen an den Ecken der Altäre signalisierten: Hier geht es zum Sitz der Macht und des Heiligen. „keras“ und „cornu“ haben zwar auch sehr viele Nebenbe­deutungen, die aber in keiner Weise den hebräischen Bedeutungsumfang abdecken. Und das deutsche „Horn“ hat fast nur die eine Hauptbedeutung „Stierhorn“, die dann durch aus der Verwendung abgeleitete Nebenbedeutungen wie Trinkhorn, Signalhorn oder Pulverhorn erweitert wird, aber nie auch nur annähernd den vollen Umfang des hebräischen Wortes abdecken. Wörter wie „qar“ sind der Albtraum jedes Übersetzers.

In vielen Fällen kann man seine Bedeutung einigermaßen erfassen, wenn man für „cornu“ zunächst einmal „Feldzeichen“, „Banner“ oder abstrakter „Machtsymbol“, „Ehre“ oder eben „Haupt“ einsetzt – der Rest ist dann sprachlicher Feinschliff. Nur wo ganz konkret von den „Hörnern des Altares“ die Rede ist wie z.B. in Leviticus 8, 15, kommt man auch im Deutschen mit dieser Grundbedeutung von „cornu“ weiter.

Dritte sprachliche Schwierigkeit ist der „gärende Wein“, den die Frevler „mitsamt der Hefe“ trinken müssen. Das klingt ebenso unappetitlich wie unbekömmlich, aber nicht unbedingt nach einem Verdammungsurteil, das den Frevlern sonst oft angedroht wird. Es geht also wohl nicht um das endgültige „letzte Gericht“, sondern eher um die Erziehungs-Strafen, die der Herr im Rahmen des Tun-Ergehens-Zusammenhangs verhängt. So ist z.B. in Ps. 88, 33 davon die Rede, daß der Herr die Sünden seines Volkes „mit der Rute strafen“, doch ihm nicht endgültig seine Huld entziehen wird. Dazu passt, daß hier der abschließende Vers nicht die Vernichtung der Frevler (auch so ein schwieriges Wort – dazu in einem anderen Zusammenhang) androht, sondern die Niederschlagung ihrer Macht. Es geht, zunächst zumindest, um die Zeit – nicht um die Ewigkeit.

Nach dieser langen Vorrede läßt sich der Inhalt und die Zielrichtung von Psalm 74 recht kurz zusammenfassen: Es handelt sich um eine Art Buß- oder Bekehrungspredigt, in der ein Priester oder Prophet, der stellenweise mit der Stimme des Herrn selbst spricht, sein Volk dazu aufruft, die von Gott fest begründete Ordnung einzuhalten. Nicht weltliche Moden oder Mächte (V. 7) geben die Richtschnur, sondern allein der Herr. Er stellt die rechte Ordnung wieder her (V. 8) und bestraft diejenigen, die davon abweichen mit dem Ziel der Besserung, nicht der Vernichtung. Das ist für den Prediger/Sänger Grund zu großer Freude und Genugtuung, so stellt er sich die Welt vor, so soll sie sein: Dein Reich komme zu uns. In dem „ich aber werde jubeln für immer“ von V. 10 klingt dann ganz kurz an, daß dieser Jubel in alle Ewigkeitandauern wird.

*

An gleich drei Stellen dieses kurzen Psalms treten Redefiguren und Konzepte auf, die uns in dieser Zusammenstellung auch im „Magnificat“, dem Lobgesang Mariens beim Besuch ihrer „Base“, wie gerne übersetzt wird, Elisabeth begegnen. Einem Lied also, das in jeder Weise noch von der vorchristlichen Frömmigkeit des Alten Testaments Zeugnis gibt. Da sind zum einen die drei Verse 5, 6 und 8, in denen der Gedanke aufscheint, daß der (im übrigen wie oben ausgeführt nicht eindeutig identifizierbare) Sprecher die Hochmütigen und Stolzen zurechtweist und dann die einen erniedrigt, die anderen aber erhöht - beides Gedanken, die auch im Magnificat eine zentrale Rolle einnehmen. In Vers 10 schließlich heißt es, daß der Sprecher, oder die Sprecherin „für immer“ den Jubel der Gerechtfertig­ten vor den Herrn tragen wird: Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Auch der Gedanke des Gerichts und der daraus hervorgehenden Gerechtigkeit ist, wenn auch in leicht unterschiedlichem Ausdruck, beiden Liedern gemeinsam.

Man kann und darf solche Parallelen nicht überbewerten. Aber wer auch immer das Magnificat gedichtet, Jahre und Jahrzehntelang aufbewahrt und schließlich an den Evangelisten weitergegeben haben mag, er war - wie auch in anderen Versen anklingt, tief in der Gedankenwelt der Psalmen verwurzelt.

Letzte Bearbeitung: 19. August 2024

*

zurück weiter