In finem — Ps. LXXV (76)
„Wenn Du drohst, Gott Jakobs, gehen die stolzen Reiter zu Grunde.“ (75; 7)
Dieser Psalm wird in der Überschrift der griechisch/lateinischen Tradition zu Recht unter die Loblieder gezählt: Er preist den Herrn wegen seiner wunderbaren Fürsorge für sein Volk und fordert alle Menschen und Völker auf , sich der Verehrung Jahwehs, der so mächtig seine Kraft erwiesen hat, anzuschließen. Während die meisten anderen dieser Loblieder sich gar nicht genug darin tun können, möglichst viele der Heilstaten Gottes an seinem auserwählten Volk aufzuzählen, konzentriert sich dieser untypischerweise auf ein einziges dieser Ereignisse, das überdies historisch fassbar und datierbar ist: Die gescheiterte Belagerung Jerusalems durch den assyrischen Großkönig Senacherib um das Jahr 701. Seinen Platz unter den Klagelieder fand dieser Psalm wohl deshalb, weil er als Beispiel dafür dienen kann, wie Israel durch dem Willen Gottes entsprechenden Wandel das Verhängnis abwenden konnte und kann: Die Katastrophen, die die anderen Psalmen des dritten Buches beklagen, sind letztlich die Folgen eigenen Fehlverhaltens, die verdiente Strafe für eigene Sünden.
Deshalb verdient dieser historische Hintergrund eine genauere Betrachtung. Das 2. Buch der Könige enthält in den Kapiteln 18 und 19 einen ausführlichen Bericht, der im wesentlichen aus den Reden besteht, die der Assyrische König bzw. seine Boten mit König Hiskija (dem Reformkönig) von Jerusalem und dessen Beamten austauschen. Läßt man das Zeitkolorit und die Rhetorik beiseite, ergeben sich drei zentrale Punkte: Zunächst ist Hiskija bereit, die Tributforderung der Assyrer zu erfüllen und läßt dafür sogar alle Schätze des Tempels einschmelzen und abliefern. Doch das ist Senacherib nicht genug. Unter Verweis auf seine überlegene Heeresmacht besteht er auf der vollkommenen Unterwerfung – die vermutlich mit einer umfassenden Plünderung der Stadt und der Versklaverung der Einwohner verbunden gewesen wäre. In dieser Notsituastion – das ist quasi der zweite Akt – wendet sich Hiskija an den Propheten Jesaja, der ihn im Widerstand bekräftigt: „Fürchte Dich nicht vor den Reden, die du gehört hast, worin die Diener des Königs von Assur mich (d. H. Jahweh) geschmäht haben. Siehe, ich sende ihm einen Geist, der ihn ein Gerücht hören läßt, so daß er in sein Land zurückkehrt. Dort lasse ich ihn durch das Schwert umkommen.“
Hiskija verweigert die Kapitulation, und die Assyrer bereiten sich auf den Endkampf vor – nicht ohne dem König eine Nachricht zukommen zu lassen, in der sie ihn wegen seines Gottvertrauens verspotten: Wir haben schon viele Könige und ihre Länder erobert – und keiner ist vom Gott seiner Stadt gerettet worden. Was bildest du dir denn ein? Das versetzt Hiskija in Furcht, der sich anscheinend weiteres Mal um Rat an Jesajas wendet. Dieser bestärkt ihn mit einer langen Rede erneut im Widerstand und zählt dazu viele der früheren Großtaten Gottes an seinem Volk auf, um den König in seinem Gottvertrauen zu bestärken. Den gebildeten Hörern und Betern von Psalm 75 war diese Rede sicher wohlvertraut – auch deshalb brauchte der Psalm selbst auf die Heilsgeschichte nicht weiter einzugehen. Die Botschaft Jesajas endet mit einem feierlichen Wahrspruch des Propheten, in dem der vom Spott der Assyrer erzürnte Jahweh selbst seinem König versichert, daß er den Feinden die Einnahme Jerusalems nicht gestatten wird.
Und so geschieht es: In der Nacht vor dem geplanten Großangriff „machte sich der Engel des Herrn auf den Weg und erschlug im Lager der Assyrer hundertfünfundachtzigtausend Mann“. Senacherib bricht die Belagerung ab und kehrt nach Assyrien zurück, wo er in den inzwischen ausgebrochenen internen Aufständen – das waren wohl die Gerüchte – erschlagen wird. Ein weiteres Mal hat Jahweh Sein Volk aus einer aussichtslos erscheinenden Not gerettet.
Vor diesem biblisch-historischen Hintergund erschließen sich Sinn und Inhalt von Psalm 75 fast von selbst – auch wenn die griechisch/lateinische Tradition das Verständnis wegen einiger sprachlicher Schwierigkeiten und Mißverständnisse nicht gerade erleichtert. Um diese aufzuhellen kann man hier unbedenklich zur hebräischen Version greifen, und so halten es auch die meisten modernen Übersetzer.
Mit dem Verweis auf die wunderbare Rettung Jerusalems im Krieg der Syrer und die Stärkung und Bestätigung des Gottvertrauens von König Hiskija läßt sich allerdings noch nicht erklären, wieso sich der Psalm in seinen letzten Versen (9 – 13) nicht nur an das Volk Israel wendet, sondern alle Menschen und alle Völker in den Blick nimmt – auch und gerade diejenigen, die Jahweh (noch) nicht anerkennen.
Auch dieses Problem läßt sich mit einem Blick auf die Kapitel 17 bis 19 des Zweiten Buchs der Könige weitghend lösen. Diese Kapitel enthalten nämlich nicht nur den oben in seinen Grundzügen wiedergegebenen „Kriegsbericht“ oder die Erzählung von der Glaubensstärkung des Königs Hiskija durch den Propheten Jesaja. In einer dahinter/ darunter liegenden Ebene enthalten sie auch eine Auseinandersetzung mit dem Vielgötter-Glauben der Nachbarvölker, von dem sich Israel unter den Vorgängern Hiskijas ebenfalls hatte anstecken lassen und den erst Hiskija durch seine Reformen wieder zurückgedrängt hatte.
Kapitel 17 zeichnet zunächst ein anschauliches Bild dieses Rückfalls Israels in die Vielgötterei. In diesem Zusammenhang gibt der Verfasser einen bemerkenswerten Einblick in das Verständnis, das die „Heidenvölker“ und teilweise auch noch er selbst vom Verhältnis der Gottheiten zu den Bewohnern „ihrer“ Städte und Länder hatten. Die Assyrer hatten viele Bewohner jüdischer Städte umgesiedelt und durch „Leute aus Babel, Kuta, Awa ...“ (2. Könige 17; 24) ersetzt. Diese Neusiedler kannten jedoch den dort immer noch ansässigen Gott Jahwe nicht und erwiesen ihm keine Verehrung – „Er schickte deshalb Löwen unter sie, die manche von ihnen töteten“. Deshalb ließen die Assyrer einige der vertriebenen Priester zurückbringen, damit sie den neuen Bewohnern dieser Städte die rechte Verehrung des alten Gottes beibringen sollten! Das gelang jedoch nur unvollkommen. Der Fortgang des Kapitels beschreibt zunächst ausführlich, daß jedes der neu angesiedelten Völker seine eigenenmitgebrachten Götter und Kulte beibehielt. „Gleichzeitig verehrten sie auch Jahweh. Auch bestimmten sie aus ihren eigenen Reihen Priester für die (ehemals jüdischen) Kulthöhen, die für sie in den dort gelegenen Tempeln Dienst taten“. Für jeden wohlmeinenden Juden war das ein furchterlicher Gräuel, und so endet das Kapitel mit einer langen Auslegung des ersten Gebotes: „ Ihr dürft keine fremden Götter verehren, sie nicht anbeten, ihnen nicht dienen und ihnen keine Opfer darbringen… Doch sie wollten nicht hören, sondern sie handelten, wie sie es immer schon gewohnt waren. Sie verehren den HERRN und dienen zugleich ihren Götzen.“
Das war die Situation, in der König Hiskiah wie im folgenden 17. Kapitel beschrieben sein Amt antrat und den Kampf gegen die Vielgötterei aufnahm. Er bekennt sich in einem langen und sehr eindrucksvollen Gebet zu Jahweh als dem einzigen Gott: Es ist wahr, Jahweh, die assyrischen Könige haben Völker vernichtet, Länder verwüstet und ihre Götter verbrannt. Denn das waren keine Götter, sondern Werke von Menschenhand, Holz und Stein, darum konnten sie sie zerstören. Jetzt aber, Jahweh, Du unser Gott, rette uns aus seiner Hand, damit alle Reiche der Erde erkennen, daß Du, Jahweh, Gott bist, du alleine!“ (19; 17 – 19).
Es geht also in diesen drei Kapiteln des Buches der Könige und dementsprechend auch in Psalm 75 nicht alleine um die Rettung Jerusalems vor den raubgierigen Invasoren – es geht um die Verherrlichung Jahwehs als des einzigen wahren Gottes und seine Anerkennung durch alle Völker der Erde. Und gerade so wird es dann auch in den letzten Versen des Psalms abgebildet/ausgesagt – und gerade so kann es auch der heutige christliche Beter in seinem Gebet betrachten, der erleben muß, in der diese Anerkennung des einzigen wahren Herrn von immer mehr Menschen verweigert wird, die nur noch sich selbst und selbstgemachte Götzen anbeten wollen.
Dank eines sprachlichen Kunstgriffs erscheint dieser Gedanke hier am Schluß des Psalms übrigens nicht überraschend wie aus heiterem Himmel, sondern er bildet das Ende eines Bogens, dessen Anfang bereits bei Vers 3 markiert ist. Dort wird die Stadt des Tempels nämlich nicht Jerusalem genannt, sondern „Salem“. Das ist nicht nur eine Anspielung auf das mythische „Salem“ Melchisedechs, im hebräischen „Schalom“ klingt (ebenso übrigens wie im lateinischen „pax“ nicht nur das Wort Friede als Gegensatz zu Krieg an, sondern auch das „Heil“, das von dieser Welt bis in die Ewigkeit reicht.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
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