Voce mea — Ps. LXXVI (78)

Ein weiteres Mal das Bild vom Durchzug durch das Rote Meer.

„Durch das Meer ging Dein Weg, Dein Pfad durch gewaltige Wasser.“ (76; 20)

Anders als beim vorhergehenden Psalm, dessen Ausgangsereignis nach allgemeiner Ansicht auf’s Jahr genau bestimmbar ist, bleibt die Ausgangssituation hier ungewiss. Es ist auch nicht eine Notlage des ganzen Volkes, die den Beter zu seinem Aufschrei bewegt, sondern eine ganz persönliche Verzweiflungssituation – deran Ursprung freilich, wie zu vermuten ist, in einer Notsituation des ganzen Volkes zu sehen ist, denn all die Großtaten des Herrn, an die sich der Sänger im Fortgang des Psalmens erinnert (je nach Interpretation des Textes ab Vers 8 oder 11), beziehen sich auf Rettungswerke des Herrn nicht an einzelnen Fürsten oder Propheten, sondern an ganz Israel, ja sogar an der ganzen Erde.

Umso stärker wirkt der Kontrast des zweiten gegenüber dem ersten Teil, der über mehrere Verse hin die subjektive Gefühslage des Beters in einer Weise ausbreitet, die so in kaum einem anderen Psalm vorzufinden ist. Das beginnt bereits in dem (nach der Überschrift) ersten Vers, in dem von nichts anderen die Rede ist als von rufen und schreien und der Kraftanstrangung, das Ohr des Herrn zu erreichen. Zwar glaubt der Beter, daß er zum Herrn durchgedrungen ist – doch selbst das gewährt ihm keine Linderung: „meine Seele läßt sich nicht trösten“. Eine Erfahrung der finstersten Gottesferne, die den Beter in seinem tiefsten Inneren erschüttert: Wird der Herr (mich) denn auf ewig verstoßen? (8). Mit diesem Vers deutet sich dann der Übergang von der persönlichen zu einer allgemeineren Perspektive an – von der sprachlichen Form her ist nicht mehr eindeutig zu erkennen, ob der Beter von sich oder von ganz Israel spricht. Man kann sicher davon ausgehen, daß das kein Mangel an sprachlichem Ausdrucksvermögen auf der Seite des Dichters ist, sondern ein bewußt eingesetztes Stilmittel, um die Grenze/Unterschied zwischen der subjektiven Seelennot eines Einzelnen und dem katastrophalen Zustand von Volk und Welt zu relativieren. Sehr wagemutig und weit in die Zukunft blickend interpretierbar als „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“.

In den folgenden Versen drückt der betende Dichter dann seinem Willen aus, zu ergründen, warum der Herr sich denn – im Unterschied zu früher – von seinem Volkks und dessen Menschen abgewandt habe. Dafür wendet er sich der Betrachtung der vergangenen Großtaten Jahwehs zu. Im Zentrum steht für in dabei der Auszug aus Ägypten mit dem Zug durch das Rote Meer, doch auch Erinnerungen an andere Wundertaten klingen an. Im Bericht über den Zug durch das Rote Meer findet sich dann der rätselhafte Satz: Doch niemand sah Deine Spuren. Die meisten Erklärer sehen darin einen Verweis darauf, daß die Menschen nicht immer erkennen können, wie und wohin der Herr sie führt: Seine Wege und seine Spuren sind unerforschlich. Es ist also vergeblich, den Gründen für all das, was Beunruhigendes und Beängstigendes geschieht, im einzelnen nachzusinnen oder gar von Gott dafür Rechenschaft zu fordern: Wie eine Herde unverständiger, aber vertrauensvoller Schafe führt der Herr sein auserwähltes Volk durch die Hand der von ihm gesandten Priester und Propheten.

Nachdem der Dichter sich hier gleichsam zur Ordnung gerufen hat, findet der Psalm ein abruptes Ende. Kein vorweggenommener Dank, kein „Dann werde ich Dich wieder preisen im Kreise der Frommen“ kann darüber hinwegtrösten oder hinwegtäuschen, daß die Wege des Herrn unerforschlich sind – und vielleicht gerade deswegen keinen Grund zur Verzweiflung bieten. Alles ist in Seiner Hand.

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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