Attendite, popule meus — Ps. LXXVII (78)
„Vor den Augen ihrer Väter vollbrachte er Wunder im Land Ägypten.“ (77; 12)
Mit 72 Versen ist dieser Psalm der zweitlängste des ganzen Psalters. Trotzdem bietet er – insbesondere in seiner hebräischen Version – nur wenig Probleme. Die griechisch/lateinische Tradition hat einige wohl auf sprachliche Mißverständnisse zurückgehende „schwierige Stellen“, die das Verständnis jedoch nicht wirklich behindern und die ohne inhaltlichen Verlust durch Anleihen beim Hebräischen verständlicher gemacht werden können. Und die inhaltlichen Probleme des Schlussteils haben beide Traditionen gemeinsam. Doch zunächst zur Grobgliederung.
Der erste Teil, die Einleitung mit den Versen 1 – 11, ist eine Mahnrede von hoher Intensität. Sie verpflichtet die Hörer und Beter, die Gebote und Weisungen Gottes, die sie aus den Überlieferungen der Vorväter und deren Erfahrungen kennen, an ihre Kinder weiterzugeben, damit auch die sie wieder den kommenden Generationen weitergeben können. Kontinuität in Lehre und Überlieferung, das macht diese Einleitung in beschwörenden Worten klar, ist der bestimmende Charakterzug jüdischer Existenz und Fixpunkt der religiösen und ethnischen Identität Israels bis auf den heutigen Tag. In ihren letzten Versen (8 – 11) bringt die Mahnrede historische Beispiele dafür, daß die Treue zum Bund mit Jahweh keine Selbstverständlichkeit ist, sondern stets durch Eigensinn und Widerspruch bedroht war – und immer mit üblen Folgen.
Christliche Beter insbesonders seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden diesen Teil nicht ohne das beklemmende Gefühl beten können, ob nicht sie selbst oder bereits ihre Väter ebenso in Eigensinn und Widerspruch verfallen sind und immer weniger dazu bereit waren, den Glauben der Väter ernst zu nehmen und an die folgende Generation weiterzugeben.
Auf die mahnende Worte der Einleitung folgen zunächst verschiedene Aufzählungen von Beispielen für die Heilstaten Gottes an seinem Volk, aus denen sich die eingeforderte Bundestreue begründet. Ein erster Katalog (12 - 33) berichtet in einiger Ausführlichkeit über die Wunder des Wüstenzuges nach dem Auszug aus Ägypten auf: Den Zug durch das Rote Meer, das Wasser aus dem Felsen, das Manna vom Himmel, die Wachteln für den Fleischtopf. Und er berichtet von dem Unglauben und der Undankbarkeit, mit der das Volk diese Gnadengaben entgegennahm und so seine Gnade verscherzte: Sie blieben bei ihren Sünden, vebrachten ihre Tage mit Nichtigkeiten und ihre Jahre waren voller Unruhe (32, 33).
Die Erklärer sind sich seit den frühesten Zeiten darin einig, im Manna der Speisung mit dem „Brot der Stärke“ (die griechisch-lateinische Tradition schreibt direkt „Brot der Engel“) einen Typos, eine Vorgestalt der Eucharistie, zu sehen. Solange man das nicht als direkte Prophetie, sondern als ein Gleichnis oder eine Parallele ansieht, ist dagegen auch nichts einzuwenden.
Darauf folgt eine Art verallgemeinernde Besinnung (34 – 41), die verschiedene Aspekte des widerspruchsvollen Verhältnisses zwischen Jahweh und seinen Auserwählten beleuchtet: Ihren Wankelmut (35), ihre Unaufrichtigkeit (36) und Unzuverlässigkeit (41), denen der Herr mit immerwährendem Erbarmen und steter Bereitschaft zum Verzeihen (38) begegnet, denn er ist der Schwäche und Gebrechlichkeit der gefallenen Menschennatur wohl bewußt: Sie sind nur Fleisch, ein Hauch, der vorübergeht und nicht wiederkehrt (39). Dieser ganze Teil enthält eine ausführliche und mit „historischen“ Beispielen illustrierte Darlegung der Theologie des Tun-Ergehens-Zusammenhanges und des immerwährenden göttlichen Erbarmens.
Dieser Zwischenrede folgt ein weiterer Katalog von Gunsterweisen, der zunächst in den Versen 42 – 55 in die Zeit vor dem im ersten Katalog beschriebenen Auszug aus Ägypten zurückschaut – im Zentrum stehen hier die Plagen, die der Herr den Ägyptern auferlegte, um sein versklavtes Volk ziehen zu lassen. Der Bericht erwähnt ein weiteres Mal den Durchzug durch das rote Meer (53), um dann ohne Erwähnung des Wüstenzuges zur Inbesitznahme des gelobten Landes überzugehen (55). Es folgen in den Versen 56 – 64 weitere Episoden aus der schwierigen und widerspruchsvollen Liebesgeschichte Jahwehs mit seinem Volk, zum Teil ohne Einhaltung der in anderen Büchern überlieferten zeitlichen Ordnung und vor allem auch ohne explizite Erwähnung der Spaltung des auserwählten Volkes in ein nördliches und ein südliches Königtum. Das ist zwar etwas verwirrend, aber nicht entscheidend: Es geht nicht um ein Geschichtsbuch, sondern um das Grundprinzip dieser ganz besonderen geschichtlichen Beziehung. Und diese Beziehung scheint in den Versen bis 64 auf eine nicht wieder gut zu machende Katastrophe zuzusteuern, ein Unglück folgt dem anderen bis hin zur Schilderung einer katastrophalen Niederlage, die zum Tod vieler wehrfähiger Männer sowie der Priesterschaft und der Versklavung der jungen Frauen führte. (60 – 64).
Der Text wirft hier in beiden Traditionen viele sprachliche Schwierigkeiten auf und erfordert Korrekturen. Die Septuaginta/Vulgata meint, daß die Jungfrauen den gefallenen Männern keine Totenklage anstimmten, die hebräische Version ergibt – ebenfalls nach Textkorrektur – die Lesung: Den jungen Mädchen sang man kein Brautlied. Das dürfte dem Schrecken der Geschehnisse besser entsprechen, wenn man darunter versteht, daß (das Nordkönigtum) Israel nicht nur die getöteten Männer verlor, sondern auch die Frauen, die als Beute weggeführt und ganz ohne jedes Zeremoniell vergewaltigt oder zu Nebenfrauen gemacht wurden. Ob von den in Silo siegreichen Philistern oder den ebenfalls vom Krieg schwer geschlagenen Judäern des Südens, bleibt ungesagt. Eine genauere Datierung erscheint unmöglich und ist auch nicht notwendig: Das ganze sechste Jahrhundert war voller Schrecken.
In Vers 65 – 66 kommt dann die große Wende: Der Herr erwacht „wie aus dem Schlaf“ und schlägt die Feinde zurück, ein neuer Aufstieg beginnt, doch jetzt wendet sich der Blick des Psalmisten ausschließlich dem Südreich Juda zu, das sich von da an als der authentische Träger der Auserwählung betrachtete. (67 – 69). Auch dabei geht es nicht um Geschichtsschreibung, sondern ums Prinzip und wenn man es kritisch sehen will, vor allem auch um Politik: Nachdem das Nordreich 586 endgültig untergegangen war, hatte es sowohl politisch wie kultisch größte Bedeutung, das Südreich als Erbe des Bundesschlusses und des davidischen Thrones zu bekräftigen. Dazu unternimmt der Autor des Psalms (oder die als Verfasser agierende Gruppe von Tempelsängern) eine bemerkenswerte Manipulation der Zeitlinie. Die Verse 67 und 68 mit der Aussage: „Er entzog Ephraim die Erwählung und wandte sich Judah zu“ beziehen sich ganz eindeutig auf die Niederlagen und den endgültigen Untergang des Nordreichs im 6. Jahrhundert. Anschließend ist in den Versen 69 / 70 dann die Rede von der Erwählung Davids und dem Tempelbau – als ob diese Ereignisse die Folge der „Umorientierung“ des Herrn gewesen wären – obwohl zwiefellos jeder Torah-kundige Beter eine Vorstellung davon hatte, daß David und Salomo ihren historischen Ort mehrere Jahrhunderte vor der behaupteten „Umorientierung“ hatten.
Um es ein weiteres Mal zu sagen: Es geht in Psalm 77 (und in vielen anderen Passagen des AT ebenso) nicht um Geschichtsschreibung in dem Sinne, zu zeigen „wie es wirklich gewesen ist“, sondern um den Blick auf die großen Linien der Heilsgeschichte, in denen sich „Ursache und Wirkung“ nicht zweidimensional mit einem „Vorher – nachher“ synchronisieren lassen. Dieser „zeitlose“ und wenn man so will „ahistorische“ Blick auf die Heilsgeschichte ist auch dem Christentum nicht fremd – Beispiele wären etwa das außerhalb der Zeit immer wieder vergegenwärtigte Erlösungsopfer in der Liturgie oder die Möglichkeit des Gebetes für Verstorbene (von denen die Psalmen doch immer wieder (z.B. 87,6) aussagen, sie seien dem Zugriff Gottes nicht mehr erreichbar. In der stark von säkularistisch- rationalistischen Vorstellungen beeinflussten modernen Kirche des Westens wird das aber nur ungern thematisiert.
Ein zweiter Aspekt der in den Versen 65/66 behaupteten „Umorientierung“ des Herrn ist vielleicht dem christlichen Beter der Gegenwart noch schwerer zugänglich. Das Gottesbild des Alten Testamentes drückt sich generell in anthropomorphen Bildern aus: Der Herr hat Arme und Hände, er schreitet vor seinem Volk in den Krieg, seine Stimme läßt die Wälder erzittern (und ähnliches). Sein Zorn kann aufwallen wie Jähzorn (V. 30). Aber hier wird zur Erklärung, daß er seinem auserwählten und geliebten Bundesvolk soviel Niedergang und Katastrophen zugemutet hat, nicht nur der Gedanke an berechtigte Strafe für des Volkes Sünden (34) bemüht. Vers 65 zeichnet – wenn auch nur als Vergleich – das Bild eines mächtigen Herrn, der vom Wein berauscht in Schlaf gefallen ist und die Fürsorgepflicht für die ihm Anvertrauten vernachlässigt hat womöglich über Jahrhunderte hinweg. Das ist ein schwer akzeptierbares Bild – nicht nur für uns Heutige, bei denen die Frohbotschaft des Evangeliums oft genug als Absage an die angebliche „Drohbotschaft“ des AT verstanden wird. Das muß auch die Juden der Zeit schwer angegangen sein, denen doch das Lob Seiner Ehre und der Preis Seiner Gerechtigkeit so viel bedeutete.
Dennoch hat es keine Tradition und kein klassischer Kommentar gewagt, diese Worte wegzuerklären oder wegzuübersetzen, wohl aber fand sich ein Weg, sie zu entschärfen: Nach einem der Rabbis des Talmud gibt 65 nicht die Worte des Psalmisten selbst wieder, sondern läßt diesen einen Spottgesang der Philister oder ander Feinde Israels anführen, quasi im Zitat. Augustinus schließt sich diesem Erklärungsversuch an und gibt ihm eine entschieden christliche Färbung: „Niemand als der Geist Gottes darf von Gott ein solches Wort wiederholen. Aber es ist gebraucht, um zu schildern, wie der Frevler urtheilt von Gott, wenn nicht so schnell, als die Menschen sich’s verhoffen, ein Eingreifen Gottes in die Dinge dieser Zeit erfolgt.“ (Nach Reischl II, S. 59)
Nach alledem bleiben von Psalm 78 zwei Hauptaussagen: Politisch-historisch kommentiert und begründet er das Verschwinden des Nordreiches von der historischen Bühne und den Übergang von Königswürde und Erwählung an das Südreich Juda. Und theologisch ordnet er diese Entwicklung in den großen und alles überwölbenden Bogen der Heisgeschichte Israels und des Tun-Ergehens-Zusammenhanges ein, den Augustinus dann durch den bereits auch an anderer Stelle im Psalm anklingenden Hinweis ergänzt, daß dieser Zusammenhang nicht so direkt ist und unmittelbar einsichtig wird, wie das die Ungeduld der in der Zeit gebundenen Menschen gerne hätte.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
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