Deus, venerunt Gentes — Ps. LXXVIII (79)

Die Bewohner Jerusalems - Alte, Frauen, Kinder - werden von Soldaten aus der Stadt geführt.

„Das Stöhnen der Gefangenen dringe zu Dir, befrei die Todgeweihten durch die Kraft Deines Armes.“ (78; 11)

Psalm 78 schließt insoweit an die vorher­gehen­den an, als er eine der großen Katastrophen Israels, wie sie in Psalm 77 aufgezählt sind, zum alleinigen Thema macht – und das entgegen dem eher optimistisch klingenden Schluß von 78, der den Übergang in eine Epoche des Friedens anzukündigen scheint. Diese Katastrophe ist die größte, die Israel bis zur Entstehungszeit des Psalters überhaupt erlebt hat: Die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 586 und die anschließende Wegführung großer Teile der Oberschicht in die „Babylonische Gefangenschaft.“ Der erste Abschnitt (1 – 4) beschreibt die Schrecken der Niederlage. Der zweite (5 – 8) bittet in flehendem Ton Jahweh, den Gott und Schutzherrn Israels, der die Katasstrophe zugelassen hat und sie – in Exil und Verbannung – immer noch andauern läßt, um Abhilfe, um Erlösung. Der dritte Teil (9 – 12) ergänz diese Bitte durch eine theologische Begründung: Nicht nur das Volk Israel leidet – auch Gott selbst ist in Mitleidenschaft gezogen, die siegreichen Gegner (und ihre mit ihnen siegenden Götter!) verspotten die Machlosigkeit des Gottes auf dem Zionsberg, der nicht in der Lage war, sein Volk zu beschützen. Das kann, das darf Jahweh doch nicht auf sich sitzen lassen! Ein Schlußsatz (13) bringt schließlich die für Bittpsalmen obligatorische vorweggenommene Dankesformel und das Gelöbnis immerwährenden Lobes.

Das hat eine klare Gedankenführung und eindeutige Aussage, die auch nicht dadurch beeinträchtigt wird, daß es einige Unterschiede zwischen der hebräischen Tradition und den auf die Septuaginta zurückgehenden Fassungen gibt. Ob Jerusalem zum „Trümmer­haufen“ gemacht wurde oder zur „Obstwachhütte“ herabgesunken ist, macht letztlich keinen Unterschied. Schwieriger ist da schon mit dem Wort, das zur Bezeichnung der siegreichen Feinde gebraucht wird: Sowohl das hebräische „Goyim“ als auch das lateinische „gentes“ bezeichnen nicht nur einfach die „Fremdstämmigen“, die „Fremden“ oder die „Völker“, sondern sie schließen dabei auch deren „fremde Götter“ oder „andere Religion“ mit ein: Die Fremden sind immer auch die Ungläubigen, die Heiden. Die älteren Übersetzungen – bis einschließlich der Einheitsübersetzung von 1980 – haben hier denn auch fast ausnahmslos „Heiden“. Erst der siegreiche Säkularis­mus sieht darin eine ihm unangenehme Einbeziehung der religiösen Sphäre, einen „Anachronismus“ (Erich Zenger), und schreibt nur noch „Völker“. So steht es denn auch in der neuen Einheitsübersetzung von 2016. Dabei hätte gerade die deutsche Sprache mit ihrem Wort von den „Heidenvölkern“ ein hervorragendes Mittel, die beiden Seiten dessen, was hier gemeint ist, gleichrangig auszudrücken.

Daß die Wiedergabe mit „Heiden“ kein Anachronismus ist, sondern genau das Gemeinte trifft, ist jenseits aller philologischen Erwägungen eindeutig aus der dritten Strophe zu erkennen: Sowohl die Juden als auch ihre siegreichen Gegner betrachten den Krieg nicht nur als eine Auseinandersetzung zwischen den Völkern, sondern beziehen ihre Götter ganz selbstverständlich mit ein, und darin liegt der besondere Schmerz für die Juden. Sie haben nicht nur eine Schlacht verloren – Marduk von Babylons erweist sich scheinbar stärker als Jahweh vom Zion, der doch der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erde ist. Die Juden haben nicht nur ihr Land, ihren König und ihre Heimat verloren, sondern sehen auch ihren Gott entthront. Und da das unmöglich sein kann, flehen sie in der dritten Strophe: Um Deines Namens willen, reiß uns heraus und vergib uns unsere Sünden.

Wegen seiner Sünden hat Gott Sein Volk mit der bittersten Niederlage gestraft, und nur durch die Wegnahme der Sündenschuld kann es Erlösung finden, wieder als „Herde auf der Weide des Herrn“ zu Frieden und zu Ehre kommen. Die Vorstellung von Erlösung selbst bleibt dabei weitgehend der irdischen Sphäre verhaftet. Ein Messias als Heilsbringer ist selbst in weiter Ferne kaum zu erkennen.

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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