Qui regis Israel — Ps. LXXIX (80)
„Du hobst in Ägypten einen Weinstock aus, hast Völker vertrieben, ihn aber eingepflanzt.“ (79; 9)
Psalm 79 scheint in seiner Eingangsformel den Schlußgedanken des Vorgängers aufzugreifen, mit dem er auch vom Inhalt her eng verwandt ist. „Du Hirte Israels höre, der Du Josef weidest wie eine Herde!“. Die Situation des Beters ist die gleiche: Der Psalmist fleht um Erretung aus der Not einer der großen Katastrophen von Stadt und Tempel, die Israel vom 7. - bis zum 5. Jahrhundert heimsuchten. Sehr wahrscheinlich ist jedoch nicht der endgültige Untergang des Reiches Judah zu Beginn des 5. Jahrhunderts gemeint, denn die erste Strophe spricht noch von den Stämmen Ephraim und Menasse, die bereits nach den Assyrerkriegen im 7. Jahrhundert aus dem Blickwinkel Judahs verschwanden. Und die letzte Strophe bittet ausdrükklich um Schutz für den „Menschensohn“ – und damit meint sie nicht Jesus den Messias, in dem sich dieser Titel später erfüllen sollte, sondern den König Israels, der nach dem Verständnis der Juden zwar von den Menschen geboren, von Gott jedoch an Sohnes Statt angenommen und als Regent eingesetzt worden ist. (Vergl. dazu auch Psalm 2)
Trotz dieser unterschiedlichen historischen Bezüge bleibt der Grundgedanke beider Psalmen der gleiche: Klage über den Verlust von Land und Hauptstadt und Rechten mit Gott, verbunden mit der flehentlichen Bitte um Wiedereinsetzung in die anscheinend aufgekündigte Bundestreue. In der Behandlung des Themas, quasi in der Tonart, unterscheiden sich die beiden Psalmen allerdings sehr stark voneinander. Wo man in 78 den rauhen und ungefilterten Schmerzensschrei von Verzweifelten zu venehmen glaubt, ist Psalm 79 ein durch und durch dichterisch gestaltetes Sprachkunstwerk. Das beginnt bereits bei der äußeren Form. Er besteht aus vier ursprünglich wohl gleich langen (jeweils 4 Verse) Strophen, die jeweils mit einem (fast) gleichlautenden Refrain enden: Jahveh, Gott der Heerscharen, wende Dich uns wieder zu, laß Dein Angesicht leuchten, und wir sind gerettet“.
Dieser Refrain kann als Hinweis dafür gesehen werden, daß der ganze Psalm möglicherweise in liturgischen Zusammenhängen gebraucht worden ist. Er entspricht fast wörtlich der Segensformel aus Numeri 6; 24-26, deren Gebrauch der Herr seinen Priestern und Leviten befohlen hat. Die Verwendung dieser Formel durch den Hl. Franz von Assisi ist belegt, sie wird auch gerne in den Gemeinschaften der Reformation verwandt; eine Übernahme in die Lateinische Liturgie scheint jedoch an keiner Stelle erfolgt zu sein. Vermutlich deshalb nicht, weil die Kirche von Rom für liturgische Segnungen trinitarische Formeln bevorzugt. Ansonsten greift sie jedoch auch in der Liturgie gerne auf Formeln zurück, die bereits in den Psalmen belegt sind – etwa in den Responsorien des Wettersegens.
Die dritte Strophe (wenn es denn nicht eine irgendwann zusammengewachsene 3. und 4. Strophe ist) bricht aus dem Schema der übrigen aus; sie hat 8 Verse, aber nur einmal den Refrain, und dessen Gedanke steht (bei leicht abweichendem Wortlaut) weder im vierten noch im achten Vers, sondern im siebten. Man kann annehmen, daß diese Verse ursprünglich dem gleichen Strophenschema folgten wie die anderen, aber wegen des starken Bildes vom verwüsteten Weinberg später einmal mit weiteren Versen, die dieses Bild ausmalen, aufgefüllt wurde. Das kann so gewesen sein, muß es aber nicht: Die hebräische Poesie war nicht in der Weise an Regeln und Schemata gebunden, wie etwa die griechische oder lateinische, und da uns bei allen alten Sprachen des vorderen Orients die genaue Aussprache nicht oder nur sehr begrenzt erschließbar ist, gibt es in diesem Bereich viele Theorien und wenig Wissen.
Sind diese Randumstände erst einmal geklärt, erschließt sich der Inhalt des Psalms ohne weitere Schwierigkeiten. Die erste Strophe enthält eine der großartigsten Anrufungen Des Herrn und Hirten Israels im gesamten Psalmenbuch. Die zweite benennt ohne lange Umschweife den Grund der Klage: Du hast uns in Elend gestürzt und zum Spott der Nachbarn gemacht. Ein harter Vorwurf eines Volkes gegen seinen Gott, als dessen Herde sich zu sehen es doch gewohnt ist. Aber weder das Hebräische noch die traditionellen Übersetzungen machen hier den Versuch, den Vorwurf durch ein „Du hast zugelassen…“ abzufedern. Das Hebräische hat hier hoch differenzierte Ausdrucksmittel und bezeichnet Gott sehr eindeutig als den Urheber!
Zur Rechtfertigung und Begründung dieses unerhörten Vorwurfs bringt dann die lange dritte Strophe im Bild von Weinstock und dem verlassenen Weinbergeine eine meisterhaft verdichtete poetische Darstellung der schwierigen Liebesgeschichte Israels mit seinem Gott. Es leuchtet ein, daß diese Geschichte nicht in eine Strophe von vier Versen zu packen ist! Sollte das die ursprüngliche Absicht gewesen sein, wurde sie später durch Wachstum der Strophe korrigiert. Die letzte Strophe schließlich enthält die eigentliche Bitte um Abhilfe und Errettung: Die Feinde sollen vergehen, der König soll wieder seinen Auftrag „von Gottes Gnaden“ regieren und das Volk soll weiterleben, um seinen Daseinszweck zu erfüllen: Gott zu loben und seinem Gesetz zu folgen.
Theoretisch ist diese Zweckbestimmung auch heute noch für alle Katholiken gültig. Als sie zum letzten Mal in einem Katechismus in deutlichen Worten ausgesprochen wurde – der grüne Schulkatechismus aus den 50er Jahren – war sie wohl für die meisten Menschen nur noch eine Leerformel. Im neuen Katechismus muß man sich schon große Mühe geben, um den Inhalt aus den wortreichen Windungen der Einleitungskapitel herauszupräparieren. Um Christen zu finden, die so leben, muß man wohl schon nach Lybien schauen, wo 20 ganz gewöhnliche Männer und Familienväter, Kopten aus Ägypten, ihren Glauben an diesen Sinn und Zweck des Lebens mit ihrem Martyrium besiegelten.
Letzte Bearbeitung: 13. April 2024
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