Deus stetit in synagoga — Ps. LXXXI (82)

Christus in einer Mandorla von Wolken und umgeben von den 7-Leuchtern des Geistes offenbart sich Johannes als Weltenherr

„Erhebe Dich Gott und richte die Erde.“ (81; 8)

Dieser religionsgeschichtlich höchst interessante Psalm scheint zunächst aus der Reihe der Klage- und Bittgebete Israel herauszufallen: Von einer Klage über eigenes Unglück ist gar nichts zu vernehmen, und erst im letzten Vers (9) erscheint eine Bitte, die als Aufruf um Gottes Hilfe verstanden werden kann: „Erhebe Dich Gott, und richte die Erde, denn Du bist der Erbe unter allen Völkern“. Unter Rückgriff auf mythologische Bilder der polytheistischen Vorzeit, der Israel einst wohl selbst angehörte und die es schon alleine deshalb nicht „vergessen“ konnte, weil diese Mythologie bei den heidnischen Nachbarvölkern immer noch höchst lebendig war, erzählt der Psalm dann von einer Ratsversammlung der Götter, in der der Gott Israels zunächst als Gleicher unter Gleichen erscheint. Sie alle sind „Söhne des Höchsten“. Doch dann erhebt er sich mit einer Anklagerede gegen seine Götter-Brüder. Er wirft ihnen vielfachen Verstoß gegen die Gerechtigkeit vor, zu deren Förderung sie doch eingesetzt sind, und ergreift dann mit einer starken Geste die Macht im Himmel: Er stößt sie von ihren Thronen und nimmt ihnen die Unsterblichkeit.

Das ist eine geradezu klassische Form einer Theomachie, einer Götterschlacht, wie sie in den Mythen vieler Völker und Religionen vorkommt. Babylons Stadtgott Marduk war ein solcher Gott, der seine Stellung durch Vatermord errungen hatte, und bei den Griechen geht der Krieg auf dem Olymp sogar über drei Götter-Generationen hinweg: zuerst entmachtet Kronos den Ur-Vater Uranos, um dann selbst von seinem Sohn Zeus abgesetzt zu werden. Den Nachhall eines solchen Mythos in einem Psalm der – zumindest zur Abfassungszeit des Psalmenbuches – streng monotheistischen Juden vorzufinden, ist einigermaßen irritierend. Darin waren sich denn auch die Rabbis des Talmud einig: Hier konnten und durften keinesfalls „Götter“ im heidnischen Sinn gemeint sein – gemeint waren nach ihrem Rettungsversuch „Richter“, ungetreue menschliche Regenten, die des einzigen Gottes Gesetz mißachtet und deshalb zu recht getadelt und abgesetzt worden waren. Die meisten Kirchenväter nahmen diese Vorlage gerne auf, andere wollten in den Teilnehmern der himmlischen Ratsversammlung Engel oder vergleichbare „Götterwesen“ erkennen. An eine „Korrektur“ des Textes wagten sie sich freilich nicht – dort steht „elohim“ bzw. „theoi“ oder „dei“ bis auf den heutigen Tag.

Die Interpretation der „Götter“ als „Richter“ leidet allerdings darunter, daß sie sich nur auf eine einzige weitere Textstelle (Ex. 21, 6) stützen kann, die überdies auch nicht eindeutig ist. Andere Verse des Psalms weisen darauf hin, daß hier mit Göttern „Söhne des Allerhöchsten“ und „Unsterbliche“ gemeint sind – nicht die übliche Beschreibung von Richtern, selbst nicht von Gott eingesetzten. Warum sollte man sich dagegen wehren, daß Vers 82 tatsächlich auf jene Phase in der Entfaltung des jüdischen Glaubens an den Einen Gott zurückgeht, in der die Offenbarung die alte Vielgötterei zurückdrängte und Jahweh als der Schutzgott Israels schließlich als der Einzige hervortrat? Diese Zeit des Übergangs dauerte wohl über ein Halbes Jahrtausend - bis zu den wohl zur Recht ins 7. Jahrhundert angesetzten Reformen des Königs Joshia. Nochspäter entwickelten sich einzelne jüdischen Schriftgelehrte zu systematischen Theologen, die darauf aus waren, alle Aussagen der heiligen Schriften in ein möglichst widerspruchsfreies Schema zusammen zu fassen.

Die Vorstellung von den „Himmlischen Wesen“ wurde im orthodoxen Judentum allerdings nie voll systematisiert und die Rabbis begnügten sich damit, die Überlieferung da, wo sie noch gestaltbar, von in ihren Augen irrigen Ansichten zu reinigen. Die Schaffung der „unsichtbaren Welt“ findet im offiziellen Schöpfungsbericht keine Erwähnung und läßt sich nur teilweise aus den Skizzen der Schöpfungsordnung in Psalm 149 und dem Gesang der drei Jünglinge (Daniel 3) erschließen. Im Jüdischen Volksglauben war der Raum zwischen Gott und den Menschen von einer ganzen Hierarchie von Göttersöhnen, Engelswesen und „Menschensöhnen“ erfüllt, zwischen denen Übergänge möglich waren.

In apokryphen Schriften des alten Testaments (Henoch und Jubeljahre) findet sich die Vorstellung von 70 „Engeln der Nationen“, die der Herr als Regenten der von ihm geschaffenen Völker eingesetzt habe. Teilweise scheint Jahweh, der Schutzherr Israels, als einer dieser „Söhne des Allerhöchsten“ angesehen worden zu sein – teilweise wird Jahweh mit dem „Allerhöchsten“ selbst identifiziert und das begründet die besondere Stellung des auserwählten Volkes: Sie brauchen keinen Mittler, keinen beauftragten Regenten – sie haben unmittelbaren Zugang zum höchsten und letztlich einzigen Gott.

Wie es scheint, ist Psalm 82 genau aus dieser Vorstellungssituation heraus entstanden, und von daher erschließt sich auch zuumindest als Vermutung die Aufnahme dieses Psalms in die Reihe der Klage- und Bittpsalmen des so sehr von seinen es ringsum umgebenden Feinden bedrängten Israel: Du, Jahweh, Du, unser Gott, bist doch der größte unter all diesen Engeln und Regenten der Völker. Du hast die Macht, sie zu zügeln und unser Schicksal zu wenden, die gebührt die Herrschaft über alle Heidenvölker!“

Allerdings gibt es eine Stelle im Johannesevangelium (10, 34), die geeigent ist, ist diesen Bezug auf die historische Verhältnisse bezüglich der Entwicklung vom Polytheismus zum Monotheismus zu relativieren und auf eine ganz andere Ebene zu stellen. Danach erklärt der Herr selbst die „Götter“ von Vers 6 als „die, an die das Gotteswort erging“ und meint damit jedenfalls nicht irgendwelche Götter und wohl auch keine Richter der Vorzeit, sondern alle, die die Gebote und die Offenbarung erhalten haben und es versäumen, danach zu handeln: Zum Leben in Gott und auf Gott hin befähigte Menschen. Damit wird der Psalm dann aus einer vielleicht allzu engen historischen Perspektive gelöst und bietet auch dem Beter der Gegenwart reichlich Stoff zur Betrachtung. Die Mahnung des Allmächtigen richtet sich nicht nur an die Richter des Altertums oder mythische Götter der Vorzeit, sondern an alle, „an die das Gotteswort ergaing“. Sie alle sind in der Taufe zu „Söhnen des Allerhöchten“ geworden.

Letzte Bearbeitung: 13. April 2024

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