Quam dilecta — Ps. LXXXIII (84)

Die Darstellung zeigt den Tempel mit seinen Höfen in einer Phantasie-Architektur - die immerhin die Gründzüge der Überlieferung aufnimmt.

„Ein einziger Tag in den Höfen Deines Heiligtums ist besser als tausend andere“. (83; 11)

Psalm 83 bietet ein Preislied auf den Tempel des Herrn, das wegen einiger schwer interpretierbarer Passagen sehr verschiedene Interpretationen gefunden hat. Sie reichen von einer Klage des verfolgten David über ein Sehnsuchtslied Israels in der babylonischen Gefangenschaft bis zu einem liturgischen Gesang auf der Wallfahrt zum Tempel oder beim Eintritt in dessen Tore. So verschieden diese Versuche einer Situationierung auch erscheinen mögen: Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie eine Bewegung, ein Streben des Geistes und des ganzen Menschen zum Tempel des Herrn hin ausdrücken und daß diese Bewegung letztlich auch an ihr Ziel findet – entweder tatsächlich oder, wie bei so vielen Psalmen, in der gedanklichen Vorwegnahme der Erfüllung.

Der Psalm besteht aus drei Strophen / Abschnitten, die jeweils 4 Verse enthalten und durch das Ausrufezeichen „sela“ abgeteilt sind. sich in ihrer Tonalität unterscheiden. Im ersten Abschnitt (2 – 5) dominiert der subjektive Ausdruck der Sehnsucht des Beters, der sich entweder freut, auf dem Weg zum Tempel zu sein, oder der darüber klagt, daß er diesen Weg nicht gehen kann. Mit dem letzten Vers dieses Abschnitts wechselt die Tonalität: Der Beter spricht nun in der zweiten Strophe nicht mehr von sich und aus sich heraus, sondern von anderen, von allen, die in der gleichen Situation stehen – das Gefühl der sehnsüchtigen Freude wird gleichsam verallgemeinert: Nicht nur der eine Beter oder Pilger empfindet diese Freude, sondern alle, die mit ihm (tatsächlich oder in der Sehnsucht) unterwegs sind.

Diese Strophe enthält in Vers 7 eine bemerkenswerte sprachliche Schwierigkeit: Die hebräische Texttradition betrachtet das „Baka“-Tal als einen nicht zu übersetzenden Ortsnamen, die Septuaginta und die ihr folgenden Fassungen, die sich auf der Landkarte Judahs nicht so gut auskannten, versuchen sich in einer Übersetzung oder Deutung und schreiben „Tal der Tränen“.

Das verleiht dem Inhalt zweifellos eine größere Tiefe und wurde daher bis zur älteren Einheitsübersetzung auch im Deutschen meistens so oder ähnlich wiedergegeben: Die Reise führt durchs „Jammertal“ in ein fruchtbares Land. Die neuere Einheitsübersetzung treibt die Deutung noch eine Stufe weiter und schreibt vom „Tal der Dürre“, das sich zum „Quellgrund“ wandelt. Auch das läßt sich als eine mögliche Deutung begründen.

Eine größere Schwierigkeit begegnet dem Beter dann in Vers 10, wo völlig unerwartet eine Art Fürbitte für den Gesalbten (meshiah) Gottes auftaucht – womit nach Ansicht älterer Erklärer nur David gemeint sein kann, der in seiner Notlage – fern vom Tempel – um Beistand bittet. Damit würde freilich die oben skizzierte unbestimmte Situation des Gebets auf eine einzige Deutung eingeschränkt, die überdies im Kontext, der eher an eine Pilgerreise als an kriegerische Notsituation denken läßt, nur wenig Stützung findet. Neuere Erklärer vermuten daher in Vers 10 einen Einschub, der von den Bearbeitern der Endfassung des Psalters im 5. oder 4. Jahrhundert vorgenommen wurde, um das damals schon stark messianisch verstandene Königsthema in den Psalm einzuführen. Auch das kann bestenfalls als Vorschlag verstanden werden, als Versuch, den Blick darauf zu lenken, daß in dieser Zeit neben dem seit alters bestehenden Tempel auch der für die Zukunft erwartete und erhoffte Erlöserkönig zum Gegenstand der Sehnsucht vieler gläubigen Juden wird.

Die weitere Arbeit an der Klärung solcher Fragen kann der Beter getrost den Schriftgelehrten überlassen, die schon seit zweitausend Jahren darum ringen und wohl auch noch weiter darum ringen werden. Für ihn reicht die Einsicht, daß die Psalmen – wie letztlich das ganze Alte Testament – kein Geschichtsbuch und erst recht keine Dogmensammlung sind, sondern Ausdruck der Frömmigkeit des alten und des neuen Gottesvolkes, das seine Sehnsucht auf das Ziel jenseits von Tal der Dürre und Quellgrund gerichtet hat: Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.

Letzte Bearbeitung: 14. April 2024

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