Benedixisti Domine — Ps. LXXXIV (85)

Im Vordergrund Ruth, die Tochter des Feldherrn Boaz, bei der Getreideernte. Im Mittel- und Hintergrund Boaz samt Gefolge

„Auch spendet der Herr dann Segen, und unser Land gibt seinen Ertrag.“ (84; 13)

Dieser Psalm besteht aus zwei sehr voneinander ver­schiedenen Teilen – die dennoch zusammen unver­kennbar ein Ganzes ergeben. Der erste Teil (2 – 8) enthält in den Versen 5 – 8 die flehentliche Bitte um Errettung aus einer gegenwärtigen Notlage. Diese Bitte wird dadurch verstärkt, daß die Beter in den vorangehenden Versen 2 – 4 darauf verweisen, daß der Herr doch bereits in der Vergangenheit seinem Volk (immer wieder, möchte man ergänzen) die Sünden vergeben und seine Not gewendet hat. Der zweite Teil hat offensichtlich einen anderen Sprecher als der erste. Dieser Sprecher verkündet eine Botschaft des Heils und des Friedens: Der Herr wird seinem Volk auch dieses Mal seine Huld erweisen und es in einen geradezu paradiesischen Zustand führen. Dieser Aufbau legt nahe, Psalm 84 als (vermutlich stark gekürzte) Wiedergabe einer Buß-, Bitt- und vielelicht auch Opferliturgie zu betrachten, in deren erstem Teil die Beter zerknirscht und schuldbewußt ihre Bitten vortragen und in deren zweitem Teil ein Priester oder Levit die Annahme des Gebetes verkündet und einen Segensspruch vorträgt. Dieser Segensspruch ist so umfassend, daß ihn wohl auch die jüdischen Beter als Vorausschau auf ein messianisches Zeitalter verstanden haben und die Christen seine volle Verwirklichung wohl erst in der Ewigkeit erwarten konnten.

In beiden Teilen enthält dieser Psalm auch noch Anhaltspunkte für ein konkreteres Verständnis. Während die Einheitsübersetzung sehr allgemein von dem „Unglück“ spricht, das einst über das Volk gekommen ist, legen sowohl der hebräische Text als auch die griechisch/lateinische Tradition nahe, daß es sich bei diesem Unglück um Gefangen­schaft und Versklavung gehandelt habe. Und da diese Texte von der „Gefangenschaft Jakobs“ sprechen, ist hier sehr wahrscheinlich nicht nur das babylonische Exil des 5. Jahrhunderts gemeint, sondern auch die Knechtschaft der Söhne und Enkel Abrahams in Ägypten zumindest mitgedacht – womit der zeitliche Horizont bis zu den Erzvätern der Frühzeit (etwa 18. Jahrhundert) erweitert wird. Die ganze Geschichte des Volkes Israel (das seinen Namen ja erst der Umbenennung Jakobs durch den Herrn selbst verdankt) mit all seinen Sünden und den dafür als Strafe verhängten Leiden ist angesprochen.

Auch wenn das nicht ausdrücklich so gesagt ist, erscheint hier doch diese ganze Geschichte als durch Schuld und und dadurch verwirktes Leid verdunkelt (5, 6). Und es ist wohl nicht erst eine christliche Weiterentwckling, wenn dieses Bewußtsein sich nicht nur auf die irdischen Umstände beschränkt, sondern zumindest andeutungsweise auch metaphysische Dimension aufscheinen läßt: Das Volk Jakobs und die Menschen überhaupt sind immer der Erlösung durch die Barmherzigkeit Gottes bedürftig. Die Klirche hat daher die Verse 7 und 8 schon früh in ihre Buß- und Bittliturgien aufgenommen:

Deus, tu conversus vivificabis nos / et plebs tua lætabitur in te.
Ostende nobis, Domine, misericordiam tuam / et salutare tuum da nobis.

Und wie in Psalm 84 spendet und verkündet der Priester im Anschluß an diese Bitten den von den Frommen erbetenen Segen, wenn auch nicht so ausführlich, wie in der alttestamentlichen Vorlage. Für die Christgläubigen, die den Messias ja bereits in Wirk­lichkeit gesehen und geglaubt haben, waren die wortreichen Beschreibungen der Verse 10 – 14 auch nicht wirklich nötig. Für das alte Testament fassen diese Verse all das zusammen, was sie sich von dem erhofften Erlöser versprachen. Er bringt denen, die ihn fürchten, das Heil. Er wohnt als Herrlichkeit des Herrn – dieser Begriff enthält eine Vorausahnung der über die Grenzen einer Person hinausreichenden Fülle Gottes – mitten unter den Menschen. Er bringt umfassende Harmonie in Huld und Treue, Gerechtigkeit und Frieden – das sind nichtnur abstrakte Bezeichnungen gottgewirkter Tugenden – diese Vierergruppe ruft auch das Bild der vier Cherubim hervor, die in den Visionen der Propheten und des Sehers Johannes den Thron des Allmächtigen tragen und gelegentlich mit eben diesen Namen / Eigenschaften angesprochen werden.

Letzte Bearbeitung: 15. April 2024

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