Inclina Domine — Ps. LXXXV (86)
„Herr, Du bist gütig und voller Erbarmen, reich an Gnade für alle, die zu Dir flehen“. (85; 5)
Dieser Psalm stellt sich zunächst als das eindringliche Bittgebet eines Frommen dar, der sich in großer Not sieht und den Herrn um Beistand anruft. Die Überschrift weist ihn David zu, aber der kunstvolle Aufbau mit zahlreichen Verweisen auf Stellen aus anderen Büchern der hl. Schrift machen – wie bei den meisten David zugeschriebenen Psalmen – eine deutlich spätere Entstehung wahrscheinlich. Christliche Erklärer haben Verse wie 7, 14 oder 16 b dahingehend gelesen, in diesem Psalm das Gebet Christi in den Stunden seiner äußersten Todesnot zu sehen, und nichts spricht dagegen, diesen Zusammenhang in der frommen Betrachtung mitzudenken – als Assoziation. Zu einem messianischen Psalm wird 85 oder gar zu einer prophetischen Vorausschau auf das Leiden Christi wird er dadurch freilich nicht. Dieser Psalm ist wie so viele Psalmen Ausdruck allgemeinster menschlicher Gefühle und Stimmungen, die auf viele Situationen zutreffenund von daher von allen Menschen aller Zeiten gebetet werden können.
Inhaltlich wie formal läßt sich Psalm 85 in drei Abschnitte einteilen. Der erste Abschnitt mit den Versen 1 – 7 enthält in jedem Vers eine direkte Anrufung Gottes, die durch die Benennung einer göttlichen Eigenschaft ergänzt wird: Gott hört auf die kleinen Leute und Niedergedrückten, er hilft seinen Dienern, die ihm vertrauen, er ist gnädig gegenüber denen, die ihn anrufen… Die Aufzählung der göttlichen Eigenschaften ist in diesem Abschnitt nicht vollständigkeit: Hier steht das Bittgebet im Vordergrund, hier appeliert der Beter an das Wohlwollen des gnädigen Gottes. In allen Fällen lassen sich die in hier angesprochenen göttlichen Eigenschaften auf andere Passagen der heiligen Schrift und vorzugsweise anderer Psalmen zurückführen. In diesen Versen breitet kein Individuum seine ganz persönliche Gottesvorstellung aus – hier waren Schriftgelehrte am Werk. So bietet dieser erste Abschnitt eine geradezu katechismusartige Zusammenstellung dessen, was die Frommen des Alten Bundes von ihrem Gott und seinem Verhältnis zu den Menschen seines Bundes wussten. Dabei wird der persönliche Name des Gottes Israels, Jahweh, übrigens nur in zwei Versen (1 und 6) genannt, in den übrigen Versen wird die Anrede Herr (Adonai) oder Gott (Elohim) gebraucht. Eine irgendwie geartete inhaltliche Differenzierung ist dabei nicht zu erkennen.
Im zweiten Abschnitt 8 – 10, vielleicht auch bis 13) erfolgt dann ein Perspektivwechsel: Die Bitte um Befreiung/Erlösung aus der persönlichen Notlage tritt zunächst in den Hintergrund, und der Blick wendet sich den allgemeinen Eigenschaften Gottes, seiner Macht und Majestät zu. Das beginnt mit einer bekräftigenden Anrufung des Herrn als des Größten, des Einzigen unter allen „Göttern“ - du allein bist Gott!“. Die anderen Götter sind hier wenig mehr als eine schwache Erinnerung daran, daß andere Völker auch andere Götter verehen, denn auch die Heidenvölker, und zwar alle, werden früher oder später kommen um den Gott zu verehren, der auch sie geschaffen hat. Für Israel selbst, so kann man diese Verse 9 und 10 verstehen, ist die Vielgötterei zur Zeit der Abfasung dieses Psalms keine Versuchung mehr. Der Beter, der hier weniger als Einzelperson, sondern als Angehöriger des auserwählten Volkes zu sprechen scheint, ist dem einzigen und wahren Gott und seinem Gesetz voll ergeben (11), er ist dankbar für seine Erwählung und fühlt sich in der Huld des Herrn geborgen, ja sogar „den Tiefen der Unterwelt“ entrissen (13).
Und an dieser Stelle kann man, wenn denn in diesem Psalm überhaupt, tatsächlich auch einen messianischen Ton wahrnehmen. Zusammen mit dem „auf wig“ des vorangehenden Verses scheint hier schon die im Judentum nur schwach entwickelte Ahnung vom Weiterleben der Seele der Verstorbenen in der Herrlichkeit des Herrn anzuklingen: „Auf ewig wird mein Herz Dich und Deinen Heiligen Namen preisen! Ganz im Gegensatz zu der eher hoffnungslos klingenden Feststellung in Psalm 6, 6: „Bei den Toten denkt niemand mehr an dich. Wer wird dich in der Unterwelt noch preisen?“ Das geht dann sogar noch deutlich über die in der messianischen Erwartung bis in die Zeit Christi hinein unklare Unterscheidung zwischen der Rolle des Messias als Befreier von der Fremdherrschaft, Wiedererrichter des Königtums und Erlösers von Sünde undVerlust des Paradieses hinaus. Und das wäre denn auch ein starkes prophetisches Element.
Mit Vers 14 beginnt dann ein dritter Abschnitt, den man als das Gebet abschließende Zusammenfassung der beiden vorangehenden Abschnitte lesen kann.
Vers 14 nimmt wieder die persönliche Situation des Beters zum Ausgangspunkt, und das in einer Sprache, die unverkennbar auf die vielen Notlagen anspielt, denen David in seinem Leben durch die Verfolgungen seines Vorgängers Saul, seines Sohnes Absalom und anderer Feinde ausgesetzt war.: Sie sind Frevler, weil sie sich gegen die von Gott selbst virgegebene Ordnung versündigen. Das bedeutet nicht, daß dieser Vers tatsächlich auf David zurückgeht, aber es deutet doch daraufhin, daß es hier um mehr geht als um Alltagsauseinandersetzungen wie etwa in Psalm 69,5: „Was ich nicht geraubt habe, soll ich erstatten“. Diese abschließende Zusammenfassung hebt das vorher Gesagte auf eine höhere Ebene der Allgemeingültigkeit – und dazu passt, daß in Vers 15 noch einmal die im ersten Abschnitt gegebene Wesensbeschreibung Gottes „voll Erbarmen und Huld, langmütig voller Gnaden und treu“ wiederholt wird. Dazu passt auch, daß der Beter sich in Vers 16 als Knecht Gottes und Sohn einer Magd des Herrn bezeichent: Denn das war die Stellung, die dem Menschen zukommt, der in der Ordnung des Herrn lebt. Er kann gegenüber dem Herrn keine eigenen Rechte geltend machen – wie es die moderne Vorstellung der Menschenrechte zu proklamieren scheint – sondern er ist ganz und gar auf dessen Gnade und Erbarmen angewiesen.
Die alten Ausleger haben in der Wendung vom „Sohn Deiner Magd“ einen Hinweis auf Christus und seine demütige Mutter Maria „siehe ich bin die Magd des Herrn“ gesehen und darin einen weiteren Hinweis auf den vermuteten messianischen Charakter des Psalms gefunden. Hinsichtlich der Gottesmutter ist diese Analogie sicher begründet. Viele fromme jüdische Frauen (Rabbi Father Edersheim schreibt sogar: Alle) empfingen ihre Kinder in der Hoffnung, vielleicht die Mutter des verheißenen Messias zu werden, aber hinsichtlich Jesus Christus, der eben nicht nur der leidende Gottesknecht, sondern auch das ewige Wort Gottes ist, stößt die Analogie an ihre Grenzen. Wie schon im einleitenden Abschnitt angesprochen: Assoziationen sind zulässig – aber darauf begründete Analogien gehen in vielen Fällen vom frommen Leser oder Beter aus und sind dann nicht im Text selbst begründet.
Der letzte Vers holt dann Beter und Ausleger nach den vorangehenden Höhenflügen gleicherweise wieder auf den Boden der irdischen Umstände zurück: Herr, hilf mir aus meiner Not, damit meine Feinde beschämt werden. Ein „und erkennen, daß Du der Herr bist“ (wie z.B. in Psalm 58, 14; 82, 19; 108, 27), ist damit nur schwach angedeutet – wenn überhaupt.
Letzte Bearbeitung: 15. April 2024
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