Domine, deus salutis meae — Ps. LXXXVII (88)

Das Tor zur Unterwelt wird von Dämonen bewacht. Christus mit dem Banner der Auferstehung hat es aufgestoßen und ruft die darin wartenden Gerechten des alten Bundes heraus. Links noch einmal das Siegeszeichen des Kreuzes, gehalten von einem Menschen, vielleicht dem guten Schächer. Rechts eine Gruppe von Unglücklichen - vielleicht haben sie gerade erkannt, daß sie in den Höllenschlund hinabsteigen müssen.

„Ich bin zu den Toten hinweggerafft... An sie denkst Du nicht mehr, den sie sind Deiner Hand entzogen“ (87, 6)

Nach der Unterbrechung bei Psalm 86 scheint Psalm 87 wieder in die Reihe der Bittpsalmen zurückzukehren, die den Herrn um Hilfe in tiefster Not und Angst anflehen. Während allerdings die Notsituation in den schwärzesten Farben ausgemalt ist, bleibt die Bitte um Errettung merkwürdig blaß und unkonkret – als ob der Psalmist gar nicht sagen könnte, um was er zur Rettung bitten soll: Hilfe in Krankheit, Befreiung aus Gefangenschaft, Aufhebung gesellschaftlicher Ächtung, Verschonung vor Gottes Strafgericht, und über all dem schwebend Todesnot. All das klingt an, aber nichts davon wird ausgeführt, und so erscheint 87 tatsächlich als eines der düstersten und rätselhaftesten Lieder des ganzen Psalters.

Auch im Schluß deutet nichts auf den sonst so oft ausgedrückten vorweggenommenen Dank für eine sicher geglaubte Rettung hin. Selbst der letzte Vers bleibt bei der Tonlage größter Verzweiflung – es ist fast so, als ob der Text unvollständig überliefert wäre und einige ursprünglich dazu gehörenden Abschlußverse fehlte. Tatsächlich wird diese These von einigen Erklärern aus dem Umfeld der historisch-kritischen Methode vertreten Allerdings gibt es in keinem Manuskriptfetzen und in keinem Kommentar eines Kirchenvaters oder masoretischen Rabbis auch nur den geringsten Hinweis darauf, daß der Psalm jemals mehr Verse umfaßt hätte als die uns heute vorliegenden 19 mit dem unbefriedigend abrupten Schluß.

Neben dem Problem des „fehlenden“ Abschlusses bietet Psalm 87 auch noch einige sprachliche Probleme, die bereits den Übersetzern der Septuaginta zu schaffen gemacht haben. Eines davon soll hier vorweg angesprochen werden, weil es für die christliche Betrachtung von des Psalms eine große Rolle gespielt hat. Inmitten zahlreicher anderer Versuche, etwas über die Existenzweise der Verstorbenen im Totenreich auszusagen, heißt es in Vers 5 nach der heutigen hebräischen Standardversion einigermaßen rätselhaft „freigelassen unter den Toten“ wobei das hebräische Wort für „freigelassen“ in anderen Schriftstellen meistens die Freilassung eines Leibeigenen oder eines Gefangenen bedeutet.. Das Wort kann aber auch „aufgegeben, verlassen“ bedeuten, und so wird es vielfach auch übersetzt: „Verlassen, aufgegeben, verloren unter den Toten“ – und das passt sehr gut zum düsteren Umfeld der anderen Verse. Die Vulgata übersetzt nun „inter mortuos liber“ Ein „homo liber“ ist im lateinischen Rechts- und Sprachverständnis zwar auch ein „Freier“ – aber kein fregelassener Sklave, sondern ein Freigeborener – und das klingt nun wesentlich positiver. Damit leuchtet dieser Vers für die lateinischen Ausleger hell aus seinem düsteren Umfeld hervor und kann von daher nur als Hinweis auf Christus gelesen werden, der, als einziger „unter den Toten frei“, nicht an die Fesseln des Todes gebunden war und in seiner Auferstehung den Tod überwunden hat.

Ein vom sprachlichen und logischen Textzusammenhang ausgehendes Verständnis wird hier zur Recht einwenden, daß damit diese eine Zeile willkürlich aus dem von dunklen Todesbildern bestimmten Umfeld herausgelöst wird, und dieser Einwand hat Gewicht. Wieso sollte ein- und derselbe Beter, der sich viele Zeilen lang von Nacht und Todesschatten umgeben und überwältigt sieht, sich unvermittelt in dieser einen Zeile mit Christus, der in seiner Auferstehung den Tod überwand, identifizieren?

Betrachtet man aber den größeren Zusammenhang der heiligen Schrift, die schließlich in diesem Christus und seinem Kreuz und seiner Auferstehung ihre Erfüllung findet, ist dieses Verständnis zumindest nachvollziehbar: Nicht platt als Übersetzung des dunklen Textes, auch nicht als Prophetie künftiger Ereignisse, aber doch als ein erst für die Christusgläubigen wahrnehmbares Vorausleuchten dessen, was im alten Bund noch unerkennbar ist und erst später offenbar wird.

Auf dem Umweg über diesen Versuch, den Sinn des „schwierigen“ Verses 5 zu ergründen, ist nun aber deutlicher geworden, worum es beim ganzen Psalm 87 geht: Dieser Psalm zeichnet in immer neuen und immer bedrückenderen Bildern die Not eines Menschen, der sich vor die Unausweichlichkeit des Todes gestellt sieht. In dieser Situation stellt er jedoch nicht wie das vielleicht ein westlicher Philosoph tun würde die Frage nach dem „Sinn des Lebens“, sondern fragt sich und seinen Gott: Was geschieht denn im Tode mit mir, was o Herr, ist denn Deine Absicht, daß Du uns dieses Geschick bereitet hast? Diese in immer wieder anderen Blickwinkeln gestellte Frage ist der eigentliche und hauptsächliche Inhalt der 19 Verse dieses Psalms, auf ihre Beantwortung zielt die in den Versen 2 und 3 ausgesprochenen Bitte, mit der der Beter hier Gott gegenübertritt.

Die Verse 4 – 7, vielleicht gehört auch noch 8 dazu, beschreiben das Lebensgefühl, das im Christentum seinen Ausdruck in dem uralten Choral „Media in vita in morte sumus“ gefunden hat: „Mitten in dem Leben sind wir vom Tod umfangen“ und aus dem heraus Kierkegaard ds Leben als „Krankheit zum Tode“ beschrieben hat: Die Verzweiflung als Grundgegebenheit der menschlichen Existenz. Diese Verzweiflung hat keine Grenzen, denn selbst Gott selbst wird – so scheint es – verneint, wenn es in Vers 6 heißt: Du denkst nicht mehr an sie, sie sind Deiner Hand entzogen, In den Versen 8 – kommen dann neue Aspekte hinzu. Einmal in der Vertikalen: Der strafende und (zu Recht?) zornige Gott selbst wird als Ursache des Verhängnisses angesprochen. Dann aber auch in der Horizontalen, in der sozialen Dimension: Der Sterbende wird zum Schrecken der Überlebenden, von denen er auf immer getrennt wird. Dieser Gedanke der Trennung von Gott und der Auflösung aller sozialen (und damit wohl auch familiären) Beziehungen ist dem Psalmisten so wichtig, daß er ihn zum Abschluß in Vers 19 noch einmal wiederholt.

Mit Vers 11 wird dann ein neuer Aspekt in die Betrachtung eingeführt: Was ist der Sinn des Todes – ist ein endgültiges Ende oder geht es weiter. Der Sinn des Lebens ist dem alttestamentlichen Beter klar: Gott zu loben, ihn durch Erfüllung Seines Willens zu verherrlichen (Lukas 1, 74,75) und seine Schöpfung zu pflegen und zu vollenden - so, wie es der Herr dem Adam schon im Paradies aufgetragen hat (Gen 2, 15). Aber all das hat im Tod ein Ende – was soll das Ganze dann also? (11 – 13). Dieser Widerpruch raubt dem Beter, wie in den Versen 14 – 17 in verschiedenen Sprachbildern ausgedrückt wird, schier den Verstand: Terores tui conturbaverunt me (17). Vielleicht muß man bei den „Wassern des Zornes“, von denen sich der Beter umgeben sieht (8, 18), sogar an die Ödnis und das Chaos der Urflut denken: Im Tod des Einzelnen wird gleichsam die ganze Schöpfung rückgängig gemacht – jeder Sinn löst sich auf.

Das ist in der Tat ein überaus düsteres Weltbild. Der Psalmist hat die Frage nach dem Sinn des Todes und eines „Danach“ gestellt und welchen Plan der Gute Gott damit verbindet – und darauf keine Antwort bekommen. Tatsächlich hat das Judentum auf dies Frage nie eine über unbestimmte Ahnungen oder Hoffnungen hinausgehende Antwort gefunden. Und vielleicht ist das der Grund für das abrupte Ende des Psalms: Da, wo es nichts mehr zu sagen gibt, hört er einfach mit einem scharfen Schnitt auf.

Und genau an dieser Stelle kommt dann die Lesart der Kirchenväter ins Spiel, die in dem „als Verlassener unter den Toten“ in Anlehnung an 1. Röm 7 den erkennen, der als „frei vom Tode“ wie das „Licht im Osten aufgeht, um denen, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, den Weg zum Heil zu weisen.“ Der Sänger von Psalm 87 und die vielen jüdischen Frommen, die so gebetet haben, konnten dieses Licht noch nicht wirklich sehen. Zacharias, der Vater des Täufers, hatte es schon fast greifbar vor Augen, und so ist es für die Christen schließlich sogar dann sichtbar gegenwärtig, wenn es nicht im Text steht.

Letzte Bearbeitung: 15. April 2024

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