Misericordias Domini — Ps. LXXXVIII (89)
„Das habe ich meinem Knecht David geschworen: Auf ewig werde ich an Deiner Nachkommenschaft festhalten ... Ich mache ihn zum erstgeborenen Sohn und zum höchsten König der Erde.“ (88; 5, 28)
Der nun folgende Psalm ist mit 53 Versen der drittlängste im ganzen Buch der Psalmen. Er besteht aus mehreren großen Abschnitten, deren erster mit den Versen 2 – 19 (ebenso vielen wie der ganze Psalm 87!) in manchem wie eine Antwort, ja sogar eine Gegenrede, auf die Düsternis des vorangehenden Liedes erscheint. Die Finsternis ist wie verflogen, vom Tod ist keine Rede mehr, und sogar der Gedanke an eine Ewigkeit rückt ins Blickfeld, wenn es in 2 und 3 heißt: „Das Erbarmen des Herrn will ich auf ewig besingen, von Geschlecht zu Geschlecht deine Treue verkünden.“ Diese Ewigkeit sagt jedoch noch nichts von einem personalen Weiterleben nach dem Tode, sondern beruht auf der als endlos in die Zukunft reichend gedachten Folge der Generationen, von Kindern und Kindeskindern, Stamm und Volk. Vielleicht nicht jeden Volkes, aber des auserwählten Stammes Abrahams (4 , 5). Dieser erste Abschnitt des Psalms ist für sich gesehen ein großes Loblied auf den Herrn, der den Himmel und die ganze Welt geschaffen hat (6 – 13) und sein Volk als Friedenskönig regiert (16). Ein zweiter Abschnitt (20 – 38) beschreibt dann in einer dem Herrn selbst zugeschriebenen Rede diese wunderbare Beziehung zwischen Israel und seinem Gott und König näher, und auch dieser Abschnitt hat wieder 19 Verse. Die Geschichte dieser Beziehung beginnt hier nicht mit Stammvater Abraham und auch nicht mit dem später verworfenen ersten König Saul, sondern mit David, den der Herr selbst aus seinem Volk herausgehoben hat und zum König salben ließ (21, s. Auch Ps. 77, Vers 71). In den Versen 22 – 28 wird dann der Inhalt oder besser gesagt der Charakter dieses davidischen Königtums genauer beschrieben, bis hin zum Höhepunkt der Aufnahme des Königs durch Gott „an Sohnes statt“ und „höchsten unter den Herrschern der Erde“ – unverkennbar in Aufnahme des „Krönungshymnus“, der Psalm 2 zugrundeliegt.
Nachdem der Herr in den Versen 29 und 30 noch einmal die auf Ewigkeit angelegte Dauer dieses Gottesbundes bekräftigt hat, schlägt er in den folgenden Versen einen deutlich anderen Ton an: So unverbrüchlich auch die Treue Gottes selbst ist – die Menschen sind wankelmütig und stets geneigt, ihre dem Herrn versprochenen Gelübde zu brechen. Dann wird er sie mit der Rute und mit Schlägen – also nicht mit tödlichen Waffen – bestrafen, aber niemals die Bundestreue seinerseits aufkündigen. (31 – 35)
Der Psalmist bekennt hier also auf der einen Seite, daß Israel immer wieder gegen das Gesetz des Herrn verstoßen hat und dafür zu Recht bestraft wird – der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist unhintergehbar. Aber der Gottesbund selbst, so beschwört der Sänger hier sein unverbrüchliches Gottvertrauen, wird dadurch nicht aufgehoben: „Niemals werde ich“ so läßt er den Herrn sprechen „David belügen, sein Geschlecht soll ewig bestehen und sein Thron so lange wie die Sonne“. (36 – 38)
Der beschwörende Charakter dieser die Gottesrede abschließenden Worte wird deutlcih, wenn mit dem nun beginnenden 3. Abschnitt (39 – 53) ein weiteres mal die Tonlage sich verändert. Es ist – so empfindet es der Psalmist mit dem ganzen Volk Israel – nicht bei der väterlichen Züchtigung mit der Rute geblieben, die Strafe trrifft den Lebensnerv des Volkes, und der Vorwurf ist ungeheuerlich: Doch, Du hast den Bund mit deinem Diener gebrochen, Davids Thron gestürzt und Dich (entgegen Vers 36!) somit selbst der Lüge überführt! (39 – 46)
Diese Beschuldigung ist nur als Ausdruck der ungeheuren Niederlage verständlich, die Israel mit dem Verlust des Königtums und der Zerstörung des Jahwehtempels sowie der Wegführung seiner Eliten in die babylonische Gefangenschaft zu Ende des 6. Jahrhunderts erlitten hat und die in den Versen 41 – 45 so eindringlich beschrieben ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Psalm selbst unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Niederlage noch im Exil entstanden ist oder erst nach der Rückkehr in das auf Jahrhunderte verwundete und zerrissene Land: Das Trauma der Katastrophe beherrschte das Denken des ganzen Volkes, bis es durch das noch stärkere Trauma der endgültighen Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70 abgelöst wurde.
Der in den Versen 39 – 46 erhobene Vorwurf des Bundesbruches erscheint wohl schon dem Dichter und jedenfalls später den Betern von Psalm 88 so unerträglich, daß er, kaum erhoben, auch schon wieder eingeschränkt wird. „Wie lange noch…“ beginnt Vers 47 und drückt damit die Hoffnung, ja, die Erwartung, aus: Es handelt es sich ja doch um eine begrenzte Strafmaßnahme – um einen besonders heftigen Schlag mit der Rute – aber nicht um einen tödlichen Hieb mit dem Schwert. Und wieder folgt ein beschwörender Appell an den Bundesgott, er möge doch des Elends der Menschen gedenken, die doch ohnehin stets vom Tod bedroht (Nachklang von Psalm 87?) sind, er möge sich doch wieder auf sein dem David gegebenes Versprechen besinnen und vor allem: Er möge doch die Schmach seines Volkes beende, da diese Schmähungen doch ebenso oder noch mehr ihm, dem Gott Israels selbst gelten.
Auch Psalm 88 endet wieder ohne eine Formel des vorweggenommene Dankes für die erwartete Erhörung. Das knappe „Gepriesen sei der Herr in Ewigkeit Amen, ja amen“ ist lediglich die Doxologie, die Schlußformel des dritten Buches – und die kurzeste des ganzen Psalters.
Nach dieser Nachzeichnung der großen Linien, die den Inhalt dieses langen Psalms strukturieren, sind hier noch einige Einzelheiten etwas ausführlicher zu behandeln, die quasi neben diesen großen Linien liegen.
Der erste Abschnitt enthält über acht Verse hinweg eine Beschreibung der Majestät des Herrn inmitten Seines himmlischen Hofstaates. Wenn dort von „Gottessöhnen“ die Rede ist, greift der Psalm auf ältere mythologische Vorstellungen zurück, die aber im reifen Monotheismus der Zeit nach dem Exil Israels bestenfalls literarischen Einnerungswert haben. Interessanter erscheint uns die Beschreibung des Thrones Gottes in Vers 15: Gerechtigkeit und Recht sind die Stützen Deines Thrones, Erbarmen und Treue gehen vor Dir her. Die Vierzahl erinnert hier an die Thronvision des Propheten Ezekiel während seines Exil-Aufenthaltes in Babylon, in der er den Thron des Herrn als von vier Cherubim getragen erblickt. Sie haben die Form von Rädern, die sich in jede Richtung bewegung können, und sie sind mit zahlreichen Augen bedeckt, so daß sie in jede Richtung blicken können. Auf Cherubim thront der Herr auch in Psalm 80, 2, hier ohne die Angabe einer Zahl, und Gerechtigkeit und Recht als Stützen des Thrones werden auch in Psalm 96,2 erwähnt.
In Psalm 17 haben wir die vermutlich in sehr frühe Zeit zurückreichende Beschreibung einer Theophanie, einer Erscheinung des Herrn, der aus seinem Himmel herabfährt, um seinen König gegen die Feinde zu beschützen, auch hier fliegt der Herr auf Cherubim – oder auch auf den Flügeln des Windes – (17, 11) , der Sänger kann sich nicht recht zwischen den Bildern entscheiden. Von einem Thron- oder Kampfwagen ist hier nicht die Rede, sondern von den Elementen der Schöpfung selbst: Dunkle Wolken, Flügel des Windes, dunkles Wasser und dichtes Gewölk, anderswo kommen auch Blitze und Donner dazu. Die gewaltigen Engel um den Thron Gottes sind nicht nur dienstbare Geister oder Dienstboten, sondern Nachfahren und Erben der Elementargeister aus frühester Vorzeit. Ganz ähnlich sagt es übrigens Psalm 148, wenn er Elemente wie Feuer und Hagel, Schnee, Wolken und Sturmwind als „Vollzieher des Wortes des Herrn“ anspricht. Ehedem – vor dem Empfang des ersten Gebotes auf dem Sinai – mögen sie einmal für Götter- und Göttersöhne gegolten haben – heute sind sie mächtige Diener, die das Wort des Herrn vollziehen. (Ähnlich Psalm 82; 14-16) Oder sie sind, wie es sich in der hier behandelten Vierergruppe von 88, 15 andeutet, Personifikationen von Eigenschaften Gottes, Sinnbilder für einzelne Seiten, die in ihrer Gesamtheit das unfassbare und unaussprechliche Wesen Gottes ausmachen.
In jedem Fall aber sind sie – was in den beiden Schöpfungsberichte des Buches Genesis merkwürdigerweise nicht vorkommt – Geschöpfe Gottes, wie uns das (sehr spät entstandene und nicht von allen als Bestandteil der Heiligen Schrift anerkannte) 3. Buch Daniel wissen läßt. Dort werden die „Engel und all die Heere Gottes“ nicht nur ganz eindeutig als Geschöpfe des Herrn angesprochen – sie werden auch in eine Reihe mit den Elementen Wasser, Feuer, Hitze, Kälte usw. gestellt, übrigens auch mit den Gestirnen des Himmels. In den späten jüdischen Schriften aus der Zeit um Christus sind die Engel dann tatsächlich Sterne und die Sterne Engel. Das kommt in den Psalmen aber bestenfalls als Vorahnung vor (etwa in Psalm 148) – umso deutlicher dafür aber in verschiedenen Passagen der geheimen Offenbarung des Sehers Johannes. Dort begegnen uns dann auch wieder die vier gewaltigen Wesen um den Thron Gottes, mit den sechs Flügeln und den zahllosen Augen der Cherubim, wie sie schon Ezechiel gesehen hatte.
Der zweite Exkurs betrifft den Vers 49, der in einer beunruhigenden Doppeldeutigkeit den Blick weit in die Zukunft des Ostermorgens wirft. Im Kontext, d.h. konkret als Weiterführung des Gedankens aus Vers 48 gelesen, gehört Vers 49 ganz unspektakulär in das „Verhandlungsgespräch“, das der Psalmist und seine Beter mit dem Herrn führen: Herr, mach unserem Unglück ein Ende! Bedenke doch, wie wenig Jahre du uns an Lebenszeit zugewiesen hast (und wie viele dieser Jahre wir schon im Elend verbracht haben). Und wo gäbe es denn einen Menschen, der ewig lebt – so daß er leichten Herzens darauf warten könnte, bis Du Deinem Volk wieder gnädig bist. Gewähre uns schnell Deine Hilfe, sonst haben wir nichts mehr davon, denn mit dem Tod ist alles aus! Die in Vers 49 gestellte Frage ist von der Sprache her im Hebräischen ebenso wie in den traditionellen Übersetzungen eine rhetorische Frage, die eine negative Antwort impliziet: Einen Menschen, der ewig lebt und den Tod nicht schaut, gibt es doch gar nicht! Die gleiche rhetorischer Figur begegnet uns übrigens in Psalm 76; 14: Wo ist ein Gott, so groß wie unser Gott? Die Antwort wird in Vers 15 mitgeliefert: Du allein bist der Gott, der Wunder tut – einen anderen wie Dich gibt es nicht.
Eine ähnliche rhetorische Frageart begegnet in den Sätzen, die mit „Wer ist der Mann, (der gut leben will“) beginnen. Hier wird keine Verneinung impliziert, sondern eine Erklärung erwartet und auch gegeben: Was muß ein Mensch tun, der gut leben will? Er muß…
Das Vertrackte an Vers 48 ist nun, daß er für das Verständnis des vorchristlichen jüdischen Beters ganz klar die Aussage enthält: Es gibt keinen Menschen, der ewig lebt und nicht stirbt – und für den Christen das genaue Gegenteil aussagt: Ja, Christus hat den Tod überwunden, und wir alle sind mit ihm zum ewigen Leben berufen. Auch hier leuchtet unübersehbar wieder das Licht der Erlösung auf, das schon in dem „frei vom Tode“ des vorhergehenden Psalms aufgeblitzt war. Und auch hier muß man beide Lese- und Verständnisweisen kennen und berücksichtigen, um den entscheidenden Ausssagen dieser vielschichtigen Psalmen und ihrer verdeckten Prophetien ihren vollen Sinn abgewinnen zu können.
Letzte Bearbeitung: 15. April 2024
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