Domine, Refugium — Ps. LXXXIX (90)

Das Bild zeigt den Weltenschöpfer  und Herrn des Weltalls, der himmlischen Scharen und der Erde in seiner Ruhe am siebten Tag.

„Bevor die Berge entstanden, die Erde und der Erdkreis gebildet wurden, bist Du o Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (89; 2)

Mit diesem Psalm beginnt das vierte Buch des Psalters – ein übergreifender Zusammenhang mit dem vorhergehenden ist nicht zu erkennen und auch nicht zu erwarten. Und doch scheint Psalm 89 das Thema des Lebens, das stets dem Tode nah ist und auf ihn zueilt, erneut aufzu­greifen, wenn auch in einer anderen Tonart. Die Katastrophe von Niederlage und Exil ist aus dem Vordergrund verschwunden, es geht um die conditio humana allgemein, um den ewigen Kreislauf (oder ist es eine Wellenbewegung?) von Entstehen, Leben und Vergehen.

Deutlich erkennbar sind drei Abschnitte: Der erste (1 – 6) preist Gott als den Schöpfer und Erhalter der Welt und des Menschenge­schlechts. Der zweite (7 – 11/12) führt dann den Zorn Gottes ein, um das auch in der guten Schöpfung allgegenwärtige Elend zu erklären: Durch die Sünde hat die Schöpfung einen Bruch erlitten. Der dritte und letzte Abschnitt enthält ein Bittgebet, das nahe an die aus anderen Bittpslamen bekannte Vorwegnahme der Erfüllung heranführt, ohne diese doch direkt auszusprechen.

Diese Gedankenführung erscheint logisch und nachvollziehbar – doch in jedem Abschnitt gibt es Knoten, die den Gedankenfluß hemmen und gleichzeitig befruchten. Das erste dieser Hemmnisse ist in Vers 2 die über alle Sprachversionen erhaltene Gegenwartsaussage „Ehe die Welt entstand, BIST Du“. Das Sein Gottes ist vor und außerhalb von Welt und Zeit, gerade so sagt es der Moses offenbarte Gottesname (Exodus, 3; 14) aus, und der Psalm verwirklich in diesem Vers in der Anrede Gottes die in Vers 28, 2 an die Frommen gerichtete Forderung: „Gebt dem Herrn die Ehre seines Namens“. Für den christlichen Beter ist da aber noch mehr: Wenn Jesus, der Handwer­ker­sohn aus Nazareth, zum Erschrecken seiner Zuhörer sagt: „Ehe Abraham war, bin ich“ (Joh. 8, 58), beansprucht er genau diesen Namen für sich: Er ist der, der IST, er ist Gott.

Ein weiteres Hemmnis kann der in den Versen 3 – 6 ausgebreitete Gedanke von der Vergänglichkeit und Wechselhaftigkeit des menschlichen Lebens sein, der z.B. in der Wendung „Kommt wieder, ihr Menschen“ zu einer zyklischen Vorstellung führen kann und tatsächlich in der jüdischen Mystik der Kabbala Theorien in Richtung Wiedergeburt zu einer „Zweite Chance“ hervorgerufen hat. Ein Gedanke, der inzwischen auch in die postchristliche Esoterik einzudringen beginnt.

Der zweite Abschnitt enthält ein wesentlich trivialeres und wohl auch ungefährlicheres Hemnis für den frommen Beter, wenn es in Vers 10 heißt: Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn wir gut zurecht sind, 80. Die eine hier mögliche Ablenkung wäre die, mit Genugtuung zur Kentnis zu nehzmen, daß an die 3000 Jahre stürmischen wissenschaft­lich/technischen Fortschritts an dieser vermeintlichen Grundgegebenheit menschlicher Existenz nicht allzuviel zuändern vermochten.

Doch das wäre ein Irrtum: Die hier genannten Zahlen entsprechen nicht wie heute einem ungefähren Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung, sondern markieren die äußerste Lebenserwartung, die sich ein von den politischen und wirtschaftlichen Lebensum­stän­den außerordentlich Begünstigter machen konnte. Für die meisten Menschen war die allgemeine Lebenserwartung weitaus niedriger, viele Männer starben schon vor dem „besten Alter“ an damals zumeist unheilbaren Krankheiten, bei Arbeitsunfällen oder den ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen, die Frauen ebenfalls an Krankheiten oder im Kindbett. Daten über die tatsächliche mittlere Lebenserwartung liegen nicht vor. Ehefähig wurden die jungen Leute mit Ende der Pubertät, die damals zwei, drei Jahre später als heute eintrat, das Greisenalter begann mit um die 50 und war von vielen Beschwerden gekennzeichnet. Angehörige der Oberschicht – besserer Ernährungs­zustand, geringeres Unfallrisiko – hatten vielleicht eine etwas größere Chance, den genannten Zahlen nahezukommen, aber auch da waren das wohl nur wenige. Die „Kinder seiner Kinder“ zu sehen (Psalm 127), galt als ein besonderer Gnadenerweis.

Mit diesen Überlegungen verbindet sich die Frage, wer denn überhaupt die Beter der Psalmen waren. Wohl fast alle jüdischen Männer und Frauen – auch wenn sie nicht lesen oder schreiben konnten – kannten einige Psalmen auswendig, wohl eher die kürzeren und liedhaften. Und immerhin haben etwa hundert Psalmen nur 15 oder weniger Verse. Die längeren und komplizierteren waren wohl ebenso wie die Kenntnis von Lesen und Schreiben einer Minderheit von Schriftgelehrten vorbehalten. Zu dieser Frage gibt es viele sehr verschiedene Ansichten und wenige halbwegs sichere Kennnisse. Wir müssen sie ebensowenig beantworten wie die Frage, wer denn wohl heute noch das regelmäßige Psalmengebet pflegt.

Der dritte Abschnitt (13 – 17) entspricht vom Inhalt her in vielem den bittenden Versen 47 – 50 des vorangehenden Psalms – allerdings in einer deutlich helleren, positiver gestimmten Tonart. Insbesondere der letzte Vers klingt wie eine Segensformel oder die Akklamation des Volkes auf eine vorangehende Segnung – tatsächlich kann man sich alle Verse dieses Abschnittes als Zeugnisse eines womöglich antiphonal vorgetragenen liturgischen Gesanges vorstellen. Da wir aber über die Liturgie des Tempels fast nichts und über „private“ Gottesdienste in Synagogen und Familien nur sehr wenig wissen, bleibt das eine unsererseits von der Textgestalt her an den Psalm herangetragene Vorstellung, über deren Realitätsgehalt wir nichts wissen.

Letzte Bearbeitung: 15. April 2024

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