Qui habitat in adjutorio — Ps. XC. (91)
„Fallen auch Tausende dir zur Linken, und Zehntausende zur Rechten, wird es doch dich nicht erreichen.“ (90; 7)
Psalm 90 klingt wie ein ein Lob- und Danklied, das vom Inhalt her zunächst keine großen Schwierigkeiten aufwirft. Der Inhalt bildet eine Aufreihung guter Gaben Gottes: Schutz vor den Gefahren des Krieges, gegen Krankheit und Dämonen, gegen Unbill jeglicher Art. Was fehlt ist ein expliziter Ausdruck des Dankes für all diese Wohltaten – am Schluß, wo man diesen erwarten könnte, steht eine Gottesrede, die noch einmal die vorhergehende Aufzählung zusammenfasst und bekräftigt. Und damit sind wir dann auch schon mitten in dem Problem, das die Lektüre und das Beten dieses Liedes erschweren kann.
Der schon für sich nicht allzu lange Psalm besteht aus mehreren Abschnitten unterschiedlicher Länge und mehrfach wechselnder Sprechsituation, die manchmal innerhalb eines Verses zu wechseln scheint. Die ersten beiden – in der Vulgata sind es die ersten drei – Verse enthalten eine allgemeine Aussage, die einem Ich-Sprecher in den Mund gelegt ist: „Wer im Schutz des Höchsten wohnt, der sagt: Du bist meine Zuflucht, denn Du hast mich befreit...“ Anschließend ändert sich die Sprechsituation: Eine ungenannte Stimme redet zu dem vorherigen Ich-Sprecher und zählt ihm in den Versen 4 – 8 die guten Taten Gottes auf, die ihm verheißen sind. In Vers 9 – zumindest in dessen erster Hälfte! – kommt dann wieder der Ich-Sprecher zu Wort, und zwar mit einer (inhaltlichen, nicht wörtlichen) Wiederholung der allgemeinen Aussage aus Vers 2: „Denn Du, Herr, bist meine Hoffnung“. Danach wird die Grammatik in allen drei alten Sprachversionen unpräzise. Und die neuzeitlichen Übersetzungen weichen entsprechend voneinander ab. Gemeint ist wohl etwas wie „Du, Allerhöchster, machst Dich zur Zuflucht (für mich und alle anderen Frommen)“.
Danach verschwindet der Ich-Sprecher wieder aus dem Ablauf, und der Psalm fährt mit Verheißungen in der direkten Ansprache des Beters fort (10 – 13). Das klingt einigermaßen verwirrend und das ist es auch, wenn man die verschiedenen Lösungen betrachtet, die ältere und moderne Übersetzungen hier vorschlagen. Wobei man betonen muß: Der eigentliche Inhalt, die theologische Aussage, wird von diesen Unsicherheiten nicht berührt – es bleibt nur ungewiss, wer gerade was sagt und warum einmal die erste Person spricht und dann wieder in der zweiten Person angesprochen wird. Wenn man den Befund so formuliert, drängt sich als Lösung geradezu die Vermutung auf, daß Psalm 90 die Wiedergabe einer Liturgie, eines als Wechselgesang mit verteilten Rollen gesprochenen Gebetes ist, in dem dann da, wo es „außerliturgisch“ gebetet wurde, ein Beter oder eine Gruppe von Betern alle Rollen übernimmt.
Diese Überlegung erleichtert dann auch sehr das Verständnis oder die Einordnung des Schlußteils (14 – 16), in dem eine weitere Stimme hörbar wird – und das ist unverkennbar die Stimme des Herrn selbst, der dem Beter – ohne daß dieser explizit eine dahingehende Bitte ausgesprochen hätte – die Gewährung der ihm oder seinen Mitbetern von der „zweiten Stimme“ in Aussicht gestellten Guten Gaben zusichert. Dieser Segensspruch wird übrigens nicht direkt an den Beter gerichtet, sondern indirekt, in der dritten Person, wie eine Botschaft referiert: „Weil er mir vertraut, will ich ihn retten…“ Auch das scheint dafür zu sprechen, daß hier ein kunstvoller liturgischer Ablauf mit wechselnde Rollen wiedergegeben ist, in dem ein Priester oder Levit die abschließende Segensformel quasi als Ratschluss Gottes verkündet. Aus alledem ergibt sich dann folgende Einteilung:
- Eröffnung mit einem Lobpreis (1. Person) des schützenden Gottes durch den Beter oder eine Gruppe von Betern;
- Erste Aufzählung von Wohltaten (2. Person), hier vorzugsweise mit Verwendung kriegerischer Bilder, mit einer Unterbrechung in Vers 6, die eindeutig auf dämonische Kräfte abhebt.
- Erneuerung des Lobpreises (wieder in der 1. Person)
- Zweite Aufzählung von Wohltaten (wieder in der zweiten Person) mit einer Liste wohl als dämonisch zu verstehender Wesen (13) und der Benennung der Engel als in Gottes Auftrag vor diesen schützenden Kräften
- Abschließender Segensspruches (in der 3. Person) zum Abschluß, gerichtet an den Beter oder die Frommen allgemein (Vers 1 und 2) und gesprochen entweder vom gleichen Sprecher wie 2 und 4 oder von einer neu hinzutretenden weiteren Person – etwa einem Priester oder Leviten.
Dieser kunstvolle Aufbau macht es auch hier eher unwahrscheinlich, daß der Psalm, wie in der Überschrift der Septuaginta (nicht des masoretischen Textes) behauptet, auf David zurückgeht. Gleichzeitig eröffnen diese Vermutungen jedoch reichlich Raum auch dafür, daß einzelne Verse oder sprchliche Bilder, die zum Teil durchaus archaisch wirken, bis in älteste Zeiten zurückgehen. Der abschließende Segensspruch bilden einen der schönsten und weitreichendsten Segenssprüche des ganzen alten Testamentes, und es ist einigermaßen verwunderlich, daß die Kirche, die im übrigen im Stundengebet, aber auch in manchem Meßproprium, sehr umfänglich Gebrauch von Psalm 90 macht, diesen Segensspruch soweit wir sehen nirgendwo alleinstehend als solchen verwendet:
Weil er auf mich vertraut, werde ich ihn retten, und ihn beschützen, denn er (be)kennt meinen Namen. Ruft er mich an, werde ich ihn erhören. Ich bin bei ihm in der Not, befreie und verherrliche ihn. Ich erfülle ihm die Zahl seiner Tage und zeige ihm mein Heil.
Letzte Bearbeitung: 15. April 2024
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