Deus ultionum Dominus — Ps. XCIII. (94)

Jesus steht gefesselt und von Soldaten eingekreist vor dem Hohenpriester Kaiphas, der sich zu seinem Richter aufgeschwungen hat.

„Kann sich mit Dir der bestechliche Richter verbünden?“ (93; 20)

Dieser Psalm schließt sich inhaltlich bruchlos an den vorhergehenden an. Aber während dieser sich – ohne das explizit zu sagen – an die ganze Welt, an den ganzen Erdkreis (93, 1) richtet, wendet sich 93 von der mit dem „Richter der Erde“ in Vers 2 noch einmal aufgegriffenen universellen Perspektive ab und nimmt das immer wider ungetreue Bundesvolk Israel in den Blick. Zwar gehören zu den heftig kritisierten „Stolzen“ (V. 2) und „Frevler (V. 3) auch die Bösen aus anderen Völkern, und der Wehruf „sie zertreten Dein Volk“ (V. 5) kann sich auch gegen angriffslustige Feinde und gewalttätige Fremdherrschaft richten. Aber der Vorrwurf an die „Frevler“ wird in der Regel speziell gegen die Söhnen Jakobs erhoben, die sich vom eigenen (Stammes-)Gott und dessen Gesetz abwenden, und spätestens mit dem „Begreift doch, ihr Verblendeten im Volk“ (V. 8), wird eindeutig ausgesprochen, wer gemeint ist.

Dementsprechend richtet sich die Gedankenführung der folgenden Verse (9 – 15) in ihrer ganzen Tonart denn auch nicht nach außen, sondern nach innen, an die auf besondere Weise zur Gottesfürchtigkeit aufgerufenen Juden: Sie sollten doch wissen, was Gott von ihnen erwartet und verlangt, und sie wissen durch die Erziehung des Herrn (durch den Mund seiner Propheten) auch um den Tun-Ergehens-Zusammenhang (12, 13), nach dem Allen ein schlimmes Ende droht, die sich den Geboten des Herrn widersetzen. Die Verse 14 und 15 unterstreichen dann noch einmal in prophetischem Ton die unbedingte Geltung, die das Gesetz des Herrn für alle Angehörigen des Bundesvolkes beansprucht, und blicken voraus in eine (immer noch irdische) messianische Zukunft, in der dessen Geltung „von allen Menschen rechter Gesinnung“ anerkannt wird.

Damit endet der erste Abschnitt des Psalms, der mit der zweimaligen Anrufung des „Gottes der Vergeltung“ bereits im ersten Vers einen starken Akzent gesetzt hat, mit einem wenn man so will versöhnlicheren Ausblick. Der ebenfalls schon im ersten Vers angerufene Richter der Erde ist eben kein blindwürdiger Rachegott, wie ein etwas zu grobes Verständnis des Textes nahelegen könnte, sondern der „Richtigmacher“, der als Urheber und Garant des Zusammenhanges von Tun und Ergehen die von ihm gewollte Ordnung der Dinge aufrecht erhält. Mit dieser „Klarstellung“ und dem zusätzlichen Hinweis darauf, daß das „letzte Gericht“ nicht auf die irdische Lebenszeit des Menschen beschränkt ist – und daß das Volk Israel nach der Ankunft des Messias nicht mehr nur aus den Stammesnachkommen Abrahams besteht – wird Psalm 93 auch für den christlichen Beter voll zugänglich.

Mit Vers 16 beginnt dann ein zweiter Abschnitt, der sich in der Sprechsituation so weit vom ersten unterscheidet, daß manche Erklärer annehmen, daß hier Texte verschiedenen Herkunft zusammengafasst worden sind. Auffällig ist jedenfalls, daß mit Vers 16 erstmals ein „Ich“ als Beter in Erscheinung tritt, während bis dahin der ganze erste Abschnitt eher unpersönlich gehalten ist: Der erste Abschnitt könnte einem Gruppengebet oder einem Priestervortrag entstammen, wenn er auch nicht ausschließt, die fromme Meditation eines Einzelnen wiederzugeben. Mit Vers 16 tritt dieser Aspekt des persönlichen Bittgebetes mächtig in den Vordergrund: In jedem der Verse 16 – 19 (und dann noch einmal in 22) wird ein „Ich“ genannt. Der Unterschied gegenüber dem ersten Teil ist unübersehbar.

Inhaltlich markiert dieser Perspektivwechsel jedoch nicht wirklich einen Bruch. In einigen Versen wirkt der zweite Teil geradezu wie eine „Übersetzung“ der im ersten Teil getroffenen allgemeinen Aussagen in die persönliche Perspektive, in ein persönliches Gebet. Die Mißstände, die das ganze Land betreffen, machen auch dem Beter selbst in seinem alltäglichen Leben zu schaffen. Göttliches Gebot und Alltagsleben hängen eng zusammen. Besonders deutlich wird diese Parallelführung zwischen den Versen 15 und 20. Sie scheinen einen in vielen Psalmen benannten Mißstand aufzugreifen, der offenbar das soziale Leben des Volkes stark belastet hat: Die bestechlichen Richter, die nicht nach dem Gesetz, sondern nach Willkür oder zum eigenen Vorteil urteilen. Ihnen sind mit 20 und 21 zwei ganze und schwergewichtige Verse gewidmet.

Dabei ergibt sich bei diesen Versen ein interessanter Unterschied der Akzentuierung zwischen der hebräischen und der lateinischen Tradition sowie verschiedenen Übersetzungen. Die deutsche Einheitsübersetzung von 1980 spricht eindeutiger von bestechlichen Richtern, als das die Originaltexte hergeben. Die Version von 2016 hat versucht das, zu korrigieren und dabei mit der wörtlichen Übernahme des Ausdrucks vom „Thron der Bosheit“ doch nur Unklarheit an die Stelle vermeintlicher Klarheit gesetzt. Der Gesamtzusammenhang läßt vermuten, daß hier tatsächlich eine gewisse Mehrdeutigkeit gewollt ist. Auf der Ebene der Fakten bittet der Beter um Rettung vor ungerechten Richtern, die mit einem Schuldspruch vielleicht sogar sein Leben bedrohen. Auf einer höheren Eben erweisen sich diese ungerechten Richter nur als eine Erscheinungsform jener Herrschaft der Bosheit, die sich dagegen wehrt , alles „richtig zu machen“, d.h. nach dem Gesetz des Herrn auszurichten.

Wie der erste Teil schließt auch der zweite mit einem Ausblick auf die Wiederherstellung der Ordnung – verbunden mit dem wenig frommen, aber in diesem Weltbild durchaus begründbaren Wunsch zur Vernichtung der Feinde.

Letzte Bearbeitung: 16. April 2024

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