Cantate Domino canticum novum — Ps. XCV. (96)

Der Schöpfer, so groß wie die ganze darunter dargestellte Welt, hat den Himmel aufgerissen und läßt lebensspendenden Regen auf die Erde niederfallen.

„Der Herr ist König. Den Erdkreis hat er fest gegründet.“ (95; 10)

Psalm 95 setzt die Reihe der großen Lobgesänge auf Jahweh, den den Herrn und Gott Israels, fort. Noch stärker als bei den Vorhergehenden über­steigt der Blick des Sängers alle nationalen und ethnischen Begrenzungen: Die ganze Welt ist zu Jahwehs Lob aufgerufen. In sieben (von insge­samt 13) Versen spricht der Psalm ausdrücklich alle Völker, Nationen und die ganze Erde an. In einer für das im Prinzip stark ethnisch zentrierte Judentum außergewöhnlichen Weise enthält der Psalm einen deutlichen „Missionsauftrag“: Er beschränkt sich nicht auf die Feststellung, daß „alle Völker“ zum Lob Jahwehs aufgerufen sind, sondern er ruft auch diejenigen, die bereits Jahweh verehren – also das auserwählte Gottesvolk – ausdrüclich dazu auf, den Glauben an Jahweh weiter zu verbreiten: Die Verse 3 und 10 erteilen den gläubigen Juden die klare Weisung, bei den Heidenvölkern von Jahwehs Herrlichkeit zu erzählen und sein weltweites Königtum zu verkünden. Verse 7 – 9 machen unmißverständlich klar, daß damit nicht nur ein unverbindliches „Erzählen“ gemeint ist, sondern der Aufruf an Alle, sich dem Kult Jahwehs in seinem Tempel auf dem Zion anzuschließen.

Dieser Aufruf wird in einer derartigen Emphase, ja geradezu Atemlosigkeit, vorgetragen, daß es nur begrenz sinnvoll erscheint, den Psalm formal in Strophen oder nach Sinn-Abschnitten einzuteilen. Und doch ist inhaltlich eine Dreiteilung erkennbar, die aller­dings nicht formal in Strophen ausgedrückt wird. Ein erster Teil mit den Versen 1 – 6 richtet sich primär an die Juden selbst – enthält aber in den Versen 5 und 6 eine wenn man so will „theologische“ Auseinandersetzung mit dem Heidentum. Sie kann sowohl als Ausdruck der Selbstverständigung innerhalb der Judenheit als auch im Sinne einer „Predigtvorlage“ für die Verkündigung des Jahwehglaubens unter den Heiden verstanden werden. Das wird dann in den Versen 7 – 9 als Aufruf an die Heiden ausformuliert: Auch sie sollen den Herrn Jahweh preisen, ihm Opfer darbringen und Ihn in gebührender Weise anbeten! Vers 10 scheint sich dann wieder an die Juden selbst zu richten, schließt vielleicht aber auch die bereits bekehrten Heiden mit ein, sich ihrerseits der Mission anzuschließen.

Vers 10 schließt in seiner zweiten Hälfte mit einem Gedanken, der dann in der zweiten Hälfte von Vers 13 wiederkehrt: Der Herr hat die Erde geschaffen und er ist ihr „Richter“, d.h. die Autorität, die die Ordnung dieser Schöpfung aufrecht erhält oder wo notwendig wiederherstellt. Diese Wiederholung ist formal und auch nach dem Gewicht der beiden Teile 1 – 10 und 11 – 13 wohl kaum als Refrain zu verstehen, aber sie markiert doch einen inhaltlichen Unterschied zwischen den beiden so ungleichgewichtigen Teilen: Im ersten Teil richtet sich der Psalm an die Menschenwelt in Juden und Heiden, denen er seinen Verkündigungsauftrag erteilt. Im Schlußteil öffnet sich dann der Blick auf die gesamte Schöpfung: Nicht nur die geistbegabten Menschen, sondern die ganze Welt, belebt und unbelebt, ist zum Lob des Herrn berufen.

Vor dem Hintergrund des in diesem Psalm so stark wie wohl nirgendwo sonst ausge­sprochenen Missionsauftrages ist zu fragen, wie weit und unter welchen Umständen das Judentum diesen Auftrag angenommen oder zurückgewiesen hat. Dabei bietet sich ein höchst differenziertes Bild, das hier nur in groben Strichen nachgezeichnet werden kann. In der Frühzeit – wohl bis zum Ende des Königtums und dem Exil – war Religion für die meisten Menschen keine individuelle Entscheidung, sondern folgte einem Kollektiv: Wenn ein Fürst oder Clan-Chef die „Religion“ wechselte, hatten alle Untertanen dem zu folgen – oder den Stammesverband zu verlassen. Später, insbesondere in der Zeit des Hellenismus und in dessen geistiger Einflußzone, traten individuelle Gesichtspunkte stärker in den Vordergrund.

Das Judentum übte in der hellenistischen Welt beträchtlichen intellektuellen Einfluß aus und verfügte auch über eine starke Anziehungskraft auf „Heiden“ der unterschiedlich­sten Herkunft. Vollständige Übertritte (Proselyten) waren wohl eher selten und erfolgen wenn überhaupt nach wie vor überwiegend in Familien- oder Sippenverbänden. Aber es entstand eine Zwischenzone der Gottesfürchtigen (Eusebes), die Jahweh und die Schrift weitgehend anerkannten, ohne sich dem „Gesetz“ vollständig zu unterwerfen und durch die Vornahme der Beschneidung den vollständigen Übertritt zu vollziehen. Die beträchtliche Anzahl dieser „Sympathisanten“ war wohl einer der Gründe dafür, im zweiten Tempel einen besonderen „Vorhof der Heiden“ anzulegen.

Wieweit das Judentum in der Zeit des zweiten Tempels unter den hellenistischen „Eusebes“ tatsächlich missionierte, ist hier nicht zu diskutieren. Tatsache ist jedoch, daß die christliche Mission hier zunächst ihr bevorzugtes Arbeitsfeld fand, nachdem ihre Tätigkeit unter den genuin jüdischen Gemeinden mit der zunehmenden Trennung und teilweise aggressiven Austreibung immer stärker eingeschränkt wurde. Nach der Zerstörung des zweiten Tempels und mit der Bildung einer betont defensiven und exklusiven (Abstammungsprinzip) jüdischen Identität unter den Bedingungen der Diaspora scheint es eine jüdische Mission im eigentlichen Sinne zumindest im römischen Reich kaum noch gegeben zu haben – auch hier übernahm das Christentum Auftrag und Erbschaft des „auserwählten Volkes“.

Aus dieser Perspektive erschließt sich dann auch der zutiefst messianische Charakter von Psalm 95 als einer weit in die Zukunft vorausweisenden Prophetie. Diese Prophetie konnte zur Zeit, als der Psalm entstand, weder im religiösen Leben des Volkes als Auftrag wahrgenommen und umgesetzt noch überhaupt voll verstanden werden. Erst im „Gehet hinaus und lehret alle Völker“ (Matth. 28, 19) gewinnt der Auftrag aus Psalm 95 seine realisierbare Substanz und erhält das „Der Herr ist König“ sein wahres Gesicht: Das Gesicht Christi als das den Mensch zugewandte Gesicht des dreieinigen Gottes.

Letzte Bearbeitung: 16. April 2024

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