Dominus regnavit, irascantur populi —
Ps. XCVIII. (99)

Der Herr - hier unverkennbar als Christus und nicht als „Der Uralte“ gezeichnet - sitz auf dem Thronwagen, umgeben von den Vier Lebendigen Wesen - hier nicht als Stützen des Thrones, sondern als Verkünder des Evangeliums.

„Der Herr ist König, es zittern die Völker.“ (98, 1)

Selbst wenn es gegen die Pflicht des Bericht­er­statters verstößt, den Leser nicht mit Wieder­holungen zu langweilen: Auch dieser Psalm gehört zur Reihe der Lobespsalmen auf Jahweh, seit alters her Herr der Schöpfung und künftiger Messiaskönig auf der Erde. Es ist, als ob 98 in seinen wenigen Zeilen noch einmal alle Topoi aus den vorhergehenden Lobliedern ab Nr. 92 zusammenfassen wollte: Die Erdbeben bei seiner Erscheinung, der Thron auf den Cherubim, der Tempel auf dem Zionsberg, der Begründer der Weltordnung, der Machtanspruch über alle Völker...

Vom Inhalt her besteht Psalm 98 aus zwei Teilen: Im ersten (1 – 5) steht der Lobpreis Jahwehs als des universalen Herrschers im Vordergrund, der von seinem Tempel auf dem Zion aus über Israel - hier als Jakob angesprochen – hinaus Herrscher der ganzen Welt ist und von ihr Anerkennung und Anbetung einfordert. Der zweite Teil (6 – 9) richtet sich mit dem Gedächtnis des von Gott als seine Priester eingesetzte Brüderpaares Mose und Aaron sowie die Übergabe des Gesetzes und den Bundesschluss auf der Wüstenwande­rung fast ausschließlich nach Innen. Es geht um Sein Volk, das Seinen Bund einhält und von daher Anspruch auf die Erhörung seiner Gebete hat. Vers 8 beschreibt in lakonischer Kürze eines der Hauptkennzeichen dieses Bundes, den Tun-Ergehens-Zusammenhang: Verzeihung und Vergeltung schließen einander nicht aus, sondern gehören untrennbar zusammen. Dieser Zusammenhang, dieses ständige Auf und Ab, wird in anderen Psalmen (z.B. 77 – in geradezu epischer Breite dargelegt. Hier reicht eine bloße Erinnerung.

Diese beiden Teile haben einen in Sinn und Wortlaut weitgehend übereinstimmenden refrainartigen Abschluß (Rühmt Jahweh, unseren Gott...), der den Gedanken nahelegt, daß dieser Abschluß in einem liturgischen Zusammenhang jeweils in einer Art Respon­sorium den Vortrag eines Priesters oder Vorsängers beantwortete. Der betonte Imperativ des „Rühmt“ wäre dann eine feierliche Akklamation, eine Art Selbstverpflichtung, mit der die Beter sich zu dem vorher Ausgesagten bekennen.

Eine Merkwürdigkeit in diesem Psalm besteht darin, daß eine diesem Responsorium sehr ähnliche Wendung auch bereits innerhalb (Vers 3) des ersten Teiles erscheint. Hier ist jedoch mindest nach dem hebräischen Text der Aufruf zum Lobpreis nicht als (Selbst-)Aufforderung an die Gemeinde zu verstehen, sondern als Bitte an den Herrn, er möge doch veranlassen, daß die zuvor erwähnte Gesamtheit aller Erdenvölker in das Lob des göttlichen Namens einstimmen möge. Während die Verehrung Jahwehs auf dem Zionsberg für das Volk Israel bereits vertraglich beschlossene Sache ist, muß sie für die Gesamtheit der Völker im Sinne einer dynamischen Heilsgeschichte erst noch erbetet und vor allem vom Herrn bewirkt werden.

In den Übersetzungen der Septuaginta-Tradition war diese theologische Feinheit jedoch sprachlich nicht leicht auszudrücken, so daß die Wahrnehmung eines dreimaligen Aufrufs zum Lobpreis der Heiligkeit des Herrn in den Vordergrund trat – und das wiederum führt spätere Erklärer in Anlehnung an den hl. Chrysostomus dazu, eine Parallele zum Dreimalheilig der Cherubim vor dem in Vers 1 assoziierten Thron Gottes wahrzunehmen.

Auch die Dreiergruppe Mose und Aaron mit dem in den Psalmen nur an dieser einzigen Stelle erwähnten Samuel hat die Kirchenväter zu weitergehenden Überlegungen veranlaßt – etwa dahingehend, Mose als den Typos des Gesetzgebers und Regenten anzusprechen, Aaron als den Opferpriester und Liturgen sowie Samuel als Propheten und Mittler und somit in diesen Dreien die wesentlichen Kennzeichen und Aufgaben des Priesteramtes im Judentum und im Christentum abgebildet/vorgestaltet zu sehen.

Eine ganz besondere christliche Auslegung fand die Erwähnung des „Schemels seiner Füße“ in Vers 5. beim heiligen Chrysostomus, der dazu auf wahrhaft dialektische Weise am jüdischen Verständnis dieser Worte anknüpfte. Für die Juden war der „Schemel seiner Füße“ die Bundeslade, genauer der Raum über deren Deckplatte (kaporet) mit den beiden Cherubim, der die unsichtbare und unermeßliche Gegenwart Gottes in seinem Volk räumlich markierte. Die im Allerheiligsten des ersten Tempels aufbewahrte Bundeslade mit den Tafeln des Gesetzes, dem Öl der Königsweihe und dem Stab Aarons war bei der Zerstörung 587 durch die Babylonier verloren gegangen. Nach dem Wiederaufbau und der Wiedereinweihung des zweiten Tempels um 515 mußte das Allerheilgste leer bleiben – ein großer Schmerz und tiefe Demütigung des jüdischen Volkes.

Chrysostomus nimmt den „Schemel seiner Füße“ nun geradezu wörtlich als den Stützbalken unter den Füßen des Gekreuzigten (ein solcher wurde den Verurteilten zur Verlängerung ihrer Qualen oft beigegeben) und deutet so das Kreuzesholz als Wiederkehr der ebenfalls aus Holz gefertigten (allerdings mit Gold überzogenen) Bundeslade und der nun sichtbaren Gegenwart des im Tod siegreichen Messias. Die Bundeslade ist schon seit Jahrhunderten verschollen. Der Vorhang des Tempels ist heute zerrissen. Doch vor dem Holz des Kreuzes von Golgatha soll sich künftig jedes Knie beugen (Römer; 14, 1) – ganz wie in 98, 5 verlangt, proklamiert und vorausgeahnt: Christus a ligno regnat.

Letzte Bearbeitung: 16. April 2024

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