Jubilate Deo omnis terra — Ps. XCIX. (100)
„Er hat uns geschaffen, wir sind sein Eigentum, sein Volk und die Schafe seiner Herde.“ (99; 3)
Mit dem 99. Psalm findet die Reihe der Preislieder auf den Herrn und wahren König der Erde, der herrscht seit Anbeginn und wiederkehren wird, um richtig zu machen, was vom Weg abgekommen ist (rege, quod est devium), ihr Ende. Alles, was zu sagen und zu singen ist, ist gesagt – und so greift auch 99 wieder stark auf Verse aus den vorangehenden Liedern zurück. Die ersten beiden Verse entsprechen 4 und 5 aus Psalm 97, Vers 3 steht ganz ähnlich schon in 78, 13 und in 94, 7; Vers 4 erinnert an 83, 11 und 91, 14; das „preist seinen Namen“ des gleichen Verses hörten wir schon in 98,3. Der letzte Vers – es sind ja insgesamt nur 5 – wiederholt nur ein weiteres Mal die bereits mehrfach angerufenen Eigenschaften Jahwehs: seine Güte, besser „Gutheit“, sein Erbarmen, seine Treue.
An dieser Stelle sehen wir ganz ausnahmsweise einmal Veranlassung, philologische Aspekte zu betrachten. Die Vulgata hat hier „suavis“, „misericordia“ und „veritas“ – ziemlich exakt übereinstimmend mit der Septuaginta mit chrestos, heleios und aleteia. Der hebräische Text verwendet an dieser Stelle Worte, deren Grundbedeutung sich – soweit wir das erschließen können – mit „Vollkommenheit“, „Barmherzigkeit“ und „beständige Aufrichtigkeit“ wiedergeben läßt. Auf „Vollkommenheit“ kommen wir deshalb, weil das gleiche Wort „toweb“ z.B. auch im Schöpfungsbericht in den Sätzen „und es war gut“ vorkommt.
Dieses „gut“ ist nun doch ziemlich weit von „Güte“ entfernt. Bei der „Güte“ Gottes denken wir zumindest im gegenwärtigen Deutsch eher an eine subjektive Verhaltensweise: „gutgesinnt“, „wohlwollend“, bis „zuvorkommend“ oder „liebenswürdig“, und das lateinische „suavis“ scheint in eine ähnliche Richtung zu gehen. All das ist als Beschreibung der Eigenschaften Gottes richtig – aber es trifft doch nicht das hebräische Wort, das keine subjektive Komponente enthält, sondern einen objektiven Sachverhalt aussagt: Gott ist die Güte und das Gute schlechthin, er (und seine Schöpfung) verkörpern das Prinzip der Gutheit und Vollkommenheit. Das griechische „chrestos“, das meistens in der Bedeutung „angemessen“ oder „passend“ verwandt wird, scheint abgeschwächt in die gleiche Richtung zu weisen – und da heben die Übersetzer der Vulgat wohl etwas mißverstanden. Die „Güte“ Gottes gegenüber den Menschen ist nur ein Aspekt seines allumfassenden Wesensprinzip der Vollkommenheit und Gutheit.
Psalm 99 gehört zu den wenigen Psalmen, die in der Überschrift einen liturgischen Gebrauch anzudeuten scheinen – zumindest in der Tradition der Septuaginta, die hier als Überschrift angibt: „Psalm zum Dankopfer“. Und ebenfalls bemerkenswert: Während in den vorangehenden Psalmen die Unterscheidung des auserwählten Bundesvolkes und der anderen Völker – wenn auch in der Perspektive ihrer endzeitlichen Einheit in der Anbetung des einen wahren Gottes – ein wesentliches Motiv darstellt, ist in Psalm 99 von dieser Unterscheidung keine Rede mehr: Die Einheit ist bereits vorweggenommen, alle sind angesprochen, alle Menschen erscheinen als das eine „Volk Seiner Weide“. Diese Verwischung des sonst bei den Juden doch sehr starken Unterscheidung zwischen dem „Wir“ und dem „Sie“ macht u.E. allerdings einen liturgischen Ursprung dieses Liedes eher unwahrscheinlich. Daß es in der Vielvölkerstadt Alexandria, aus deren Schulen die Septuaginta hervorgegangen ist, vielleicht dennoch liturgisch gebraucht wurde, ist damit nicht auszuschließen.
Letzte Bearbeitung: 16. April 2024
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