Misericordiam et judicium — Ps. C. (101)
„Wer auf rechten Wegen geht, der darf mir dienen“. (100; 6)
Der ohne nähere Bestimmung David zugeschriebene Psalm wird von Thalhofer unter die sehr treffend erscheinende Überschrift „Der Fürstenspiegel“ gestellt. Nach den beiden einleitenden Versen, die als Anrufung und Versprechen an den Herrn als Garanten alles Guten zu verstehen sind, folgt eine Liste von acht „Tugenden“, die das Handeln des wahren Fürsten auszeichnen. Vor der näheren Betrachtung dieser Liste ist das sprachliche Problem zu erwähnen, das dazu geführt hat, daß gerade die deutschen Übersetzungen diese Punkte mal als Aussagen über das frühere Handeln des Königs („ich habe mich von Bösen ferngehalten“) oder als Versprechen für die Zukunft („ich will mich von Bösen fernhalten“) wiedergeben. Das hier verwendete hebräische „Imperfekt“ scheint im Zeitempfinden der indoeuropäischen Sprachen kein rechtes Gegenstück zu haben – es bezeichnet Handlungen von langer Dauer, die aus der Vergangenheit in die Zukunft reichen und in gewisser Weise zeitlos sind.
Das hat schon den griechischen und lateinischen Übersetzern Mühe bereitet, und irritiert dann natürlich auch die deutschen. Die Einheitsübersetzer behelfen sich mit einer etwas unbestimmt schwebenden Gegenwartsform , die das u.E. hier gemeinte recht gut trifft: Es handelt sich um allgemeine Aussagen, die so schon immer gegolten haben, und die sich der Sprecher hier zu Eigen macht, um die Grundsätze für sein eigenes Handeln zu beschreiben und auch für die Zukunft zu geloben. In diesem Sinne haben auch die meisten frühen Erklärer die schwierigen Zeitformen der Vorlage handhabbar zu machen versucht. Ob dieser „Sprecher“ ursprünglich ein König war – der diesen Psalm etwa im Sinne eines Amtsgelöbnsises vortrug – oder ob er die fromme Gesinnung eines Beters ausdrückte oder gar als Vorgabe für Menschen formuliert war, die nach Rechtschaffenheit streben, ist kaum zu sagen. Keine der drei Möglichkeiten schließt die andere aus, sieht man einmal von Vers 8 ab, der mit seinem „Zum Tagesanbruch töte ich die Sünder im Lande“ doch eher auf die (dem Ideal nach) allmorgendliche Gerichtssitzung des Königs als auf die Alltagspraxis eines rechtschaffenen Familienvaters hindeutet. Doch auch dieser konnte sich das in jenem Vers ausgedrückte Amtsverständnis durchaus im frommen Gebet zu eigen machen: Das Böse mit allen Mitteln auszutilgen.
Das mag dem heutigen Beter schwerer fallen, der in einer Zeit lebt, in der ein Papst es unternimmt, die Todesstrafe im Katechismus als unzulässig zu bezeichnen. Aber während das Christentum mit dem Glauben an das personale Weiterleben der Seele nach dem Tode, an ein „jüngsten Gericht“ und das Paradies in Gottes Gegenwart und dessen Gegenbild in der Hölle leichter im Stande war, die Unvollkommenheiten und die Abgründe des Erdenlebens theologisch zu begreifen und der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit des Herrn anheim zu stellen, hatte das Judentum mit seiner schwach ausgebildeten Jenseitsvorstellung diese Fähigkeit nur in sehr begrenztem Maße: Wenn die Welt jemals den in Jesaja 11, 6 versprochenen Idealzustand erreichen sollte, in dem „die Wölfe bei den Lämmern wohnen“ , mußte das in einer – freilich unter der Herrschaft des Messias erst „irgendwie“ verwandelten - Diesseitswelt geschehen. Die Sünder zu töten und dadurch die Sünde aus der Welt zu verschaffen ist in diesem Weltbild eine durchaus verlockende Vorstellung. So wird die von bösen Menschen gestörte gottgewollte gute Ordnung wenigstens ein Stück weit wiederhergestellt.
Die anderen sieben Tugenden (hier jetzt ohne Anführungszeichen) des Regierungshandelns und rechtschaffenen Lebens sind demgegenüber kaum kontrovers.
- Sich aufrechten Sinnes zu erhalten inmitten der irdischen Herausforderungen;
- nichts Böses anzustreben und die Bösen zu hassen;
- die Gemeinschaft von Bösewichtern zu meiden;
- Lügnern und Verleumdern entgegenzutreten;
- sich nicht mit den Hochmütigen und Gierigen gemein zu machen;
- sich mit guten und rechtschaffenen Menschen zu umgeben;
- auch im privaten Bereich hochmütigen und lästerlichen Reden entgenzutreten.
All das kann für jeden rechtschaffenen Menschen als Tugend gelten, nichts davon wäre nur einem Herrscher vorbehalten, und nur der im zweiten Punkt empfohlene Hass auf die Bösen würde auch im Christentum nicht als Tugend gewertet: Feindschaft und Hass gilt der Sünde, aber nicht dem Sünder, dessen Heil anzustreben oberstes Gebot der Nächstenliebe ist. Inhaltlich sind hier weder die sieben Tugenden der lateinischen Antike noch die entsprechende Auflistung des Christentums voll getroffen, aber es gibt Schnittstellen. Das Alte Testament ist nicht fix und fertig vom Himmel herabgefallen oder von einem Engel überbracht worden, sondern es belebt vorhandenes Material.
Letzte Bearbeitung: 16. April 2024
*