Domine, exaudi orationem meam — Ps. CI. (102)

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Den Betern der lateinischen Liturgie ist der Anfang von Psalm 101 wohlvertraut: „Domine, exaudi orationem meam – et clamor meus ad te veniat.“ Das Versikel und Responsorium „Herr erhöre mein Gebet und laß mein Rufen zu Dir kommen“ bildet an unzähligen Stellen der Liturgie die Eingangsformel zum Gebet. In ähnlichen Worten und Sinn steht diese Anrufungl meist am Anfang mehrerer anderer Psalmen (4, 16, (38), 53, 54, (63), (83), 85, 129, 142), und wenn der exakt gleiche Wortlaut auch nur in 101 vorkommt, so kann doch kein Zweifel bestehen, daß eine solche Formel schon im vorchristlichen Judentum gerne zur Eröffnung von Gebeten verwandt wurde – und daß die Kirche sich mit deren Übernahme an prominenter Stelle sichtbar und wohl auch absichtsvoll in diese Tradition einreihte.

Charakteristisch für diesen Psalm ist das Auf und Ab der darin ausgedrückten Gedanken und Gefühle des Beters. Die Verse 4 – 12 zeugen von Schmerz und Not eines Menschen in einer tiefen körperlichen und geistigen Krise. Hier spricht in erster Linie der Beter als Individuum. Dem folgt in den Versen 13 – 23 ein Lob der Größe des Herrn und der Ausdruck unerschütterlicher Zuversicht darauf, daß er das Los nicht nur des einen Beters, sondern des ganzen gläubigen Volkes wenden werde und auch schon gewendet hat. Die Perspektive weitet sich von der individuellen Notlage zum ganzen Volk Gottes und schließt (in 19) sogar die zukünftigen Generationen mit ein: Sie alle sollen sich im Lob Gottes vereinen. Das in Vers 20 aufscheinende Gottesbild des vom Himmel her auf die Menschenerde herabblickenden Jahweh hat auch die populären Gottesvorstellungen des Christenums nachhaltig beeinflußt.

Die Rede vom Seufzen der Gefangenen und der Befreiung der Todgeweihten in Vers 21 läßt vermuten, daß dieser Psalm unter dem Eindruck der Babylonischen Gefangenschaft entstanden sein könnte. Aber nicht unmittelbar in der bedrängenden Not des Exils, sondern nach der durch Gottes Fügung erfolgten Befreiung und bereits im Vorblick auf das messianische Zeitalter, in der alle Völker sich im Lob des Herrn auf dem Zion vereinen (22, 23). Diesem vertrauensvollen und tröstlichen Ausblick in die Zukunft folgt in unmittelbarer Gegenbewegung eine Rückkehr in die individuelle Situation des ersten Teils: Er hat meine Kraft auf dem Weg gebrochen (24) – und darauf sofort wieder die Aufwärtsbewegung: der ewige und unsterbliche Gott kann doch nicht den vorzeitigen Tod seines Frommen wollen!. Dieser Gegensatz zwischen der unermeßlichen Macht des Herrn und seiner unwandelbaren Dauer für alle Zeit und der Vergänglich des Menschen wird dann in 26 – 28 in dem Bild des zerfallenden Gewandes dargestellt. Das wirft den Beter aber nicht zurück in die düstere und nachgerade depressive Stimmung des Anfangs, sondern die Ewigkeit Gottes wird ihm zum Zeugnis und zur Gewähr dafür, daß auch Israel – nicht in seinen Individuen, aber als gottgesegnetes Volk, auf Dauer bestehen wird.

Diese Auf- und Abbewegung der Gedankenführung hat modernen Auslegern viele Anstöße zu gelehrten Spekulationen gegeben – die jedoch u.E. so gut wie nichts dazu beitrage, dem frommen Sinn mehr zu offenbaren, als das, was ohnehin jeder Mensch vor der Ausrufung der Fortschrittsreligion wußte: Es geht nicht immer nur und andauernd geradlinig nach oben, sondern des Leben des Einzelnen und der Gesellschaft ist von vielerlei Wechselfällen bestimmt. Am Ende steht für den Einzelnen immer der Tod, und wenn es danach „irgendwie“ weitergehen soll, dann nur durch die Macht und den Willen des unsterblichen Schöpfers. Von diesem „Irgendwie“ hatten die Juden auch noch in der Zeit um das Leben Christi nur schwache und durchaus widersprüchliche Vorstellungen. Am verbreitetsten war wohl der Gedanke, der in einer nicht so streng individualisierten Gesellschaft ohnehin nahe liegt, dieses Weitergehen in der Gemeinschaft, vor allem aber in der eigenen Nachkommenschaft, zu verorten. Daher auch die manchen Psalmen (wie auch hier in V. 19) so eindringlich geäußerte Absicht und Verpflichtung, den Jahweh-Glauben und den mit Jahweh geschlossenen Bund an die nächsten Generationen weiterzugeben. Das war nicht nur Ausdruck eines die Generationen übergreifenden Bewußtseins sozialen Zusammenhalts oder der ebenso unbegrenzten Verbindlichkeit des Gottesbundes: Es ging auch „irgendwie“ um die eigene Existenz, die dann vollständig erlöschen müsste, wenn diese Kette der Weitergabe des Lebens im Bunde des Gottesvolkes abgebrochen würde.

Psalm 101 wirft in allen Sprachversionen einige Verständnisschwierigkeiten auf, die im Allgemeinen keine größeren Inhaltlichen Auswirkungen haben. Ob die Seele des Verzweifelten sich fühlt wie ein Pelikan (der schließlich ans Wasser gehört) in der Wüste oder eine ebenfalls dorthin verschlagene Dohle, die jede Art von Geselligkeit auch und gerade in menschlichen Siedlungen schätzt, ist letztlich nicht von Bedeutung. Schwieriger ist es da mit dem korrekten Verständnis von Vers 10/11, in dem anscheinend unmotiviert plötzlich vom Abscheu und dem Zorn Gottes gegenüber dem Menschen die Rede ist. Für die Juden, denen das Bewußtsein des Tun-Egehens-Zusammenhange gleichsam in Fleisch und Blut eingegangen war, bedurfte es vermutlich keiner großen Anstrengung, in jedem „Zorn Gottes“, in jeder Heimsuchung und Katastrophe, eine zutiefst berechtigte und begründete Reaktion des Herrn auf menschliches Fehlverhalten, auf die Übertretung Seines Gesetzes, auf den Bruch Seines Bundes zu erkennen. Das wird in so vielen Psalmen so ausdrücklich gesagt – gerade kurz zuvor erst in 98, 8, in 95, 10 und mit all dem Auf- und Ab in 88 – daß es auch in den Versen mitgehört und mitgemeint werden konnte, in denen dieser Zusammenhang nicht explizit in Worte gefasst ist.

Und so hat es auch wohl die Kirche mitgehört, die Psalm 101 als den Fünften in die Reihe der „Bußpsalmen“ aufgenommen hat, die als Bekenntnis von Schuld und die Bitte um Vergebung – und Milderung der zu Recht verhängten Strafen – sowohl zu bestimmten festgelegten Zeiten als auch in konkreten Notsituationen gesungen werden. Dahinter steht die bereits im Judentum angelegte, im Christentum aber dann theologisch vertiefte und in einen Gesamtzusammenhang eingebundene Erkenntnis: Wann immer er Grund zur Klage gegenüber Gott, ja sogar zu einer Anklage gegen Gott zu haben meint, ist er gut beraten, die letzte „Schuld“ für seine Not zunächst bei sich, bei seinem Umfeld, im menschlichen Verhalten insgesamt, zu suchen. Keiner hat jemals ohne Sünde gelebt (Römer 3, 2) und 2.Korinther)

Nicht nur von da her besteht eine tiefe und wahrhaft dialektische Beziehung zwischen dem Gebet des Psalms 101 und dem einzigen Menschen, der jemals ohne Sünde gelebt hat, und der doch vor Gott alle Schuld getragen hat (2. Korinther 5, 21): Jesus Christus, Davids Sohn aus Nazareth. Gleichzeitig wird in Psalm 101 (26 – 28) so deutlich erkennbar wie an wenigen anderen Stellen des Psalmenbuches, daß der Jahweh, an den Israel sich mit seinen Gebeten wandte, kein anderer ist als der, durch den alles geschaffen wurde (Kolosser 1, 15), und der dann als Messias in sein Volk und die ganze Menschheit einging und deren Schuld auf sich nahm. Doch die Seinigen haben ihn nicht erkannt (Joh. 1, 10) – und das waren nicht nur die verstockten Juden in der Zeit von Kaiser Tiberius.

Letzte Bearbeitung: 16. April 2024

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