Benedic anima mea — Ps. CII. (103)
„Lobpreise den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht all das, was er dir Gutes getan.“ (102, 2)
Psalm 102 stellt der alles in allem doch eher dunklen Grundstimmung von Psalm 101 bereits in den ersten Versen mit der Aufforderung: Lobe meine Seele den Herrn ... und vergiss nicht all seine Gnadengaben! einen strahlenden Gegenakzent entgegen. Dieser Jubelton wird den ganzen Psalm hindurch gehalten – bis zum letzten Vers 22, der den Gedanken und teilweise auch den Wortlaut des Psalmbeginns wörtlich wiederholt: Lobe meine Seele den Herrn! Dieser Jubelton geht in Vers 10, der den ersten Abschnitt beschließt, sogar so weit, das „Grunddogma“ des alttestamentlichen Glaubens, den Tun-Ergehen-Zusammenhang, zu bestreiten oder doch zumindest in Frage zu stellen: „Er tut uns nicht nach unseren Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Schuld“. Diese Aussage klingt im Deutschen entschiedener als im Hebräischen und auch im Lateinischen – darauf wird noch einzugehen sein – aber auch für jüdische Ohren klang sie zumindest sehr ungewohnt, wenn nicht sogar skandalös. Vielleicht erklärt sich daher auch die gewisse Relativierung dieser Aussage im letzten Vers (18) des zweiten Abschnitts, der die Erfahrung des Heils wieder auf die zu beschränken scheint, „die sich seiner Gebote erinnern und danach handeln“. Dem Jubelton der vier Schlußverse tut das freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil: Nachdem der erste Teil die Aufforderung zum Lobpreis des Herrn mit den Wohltaten begründet, die er dem Beter und dem Volk Israel erwiesen hat, weiten die Schlußverse 19 – 22 den Blick ins Kosmische: Der ganze Himmel mit dem Hofstaat seiner Mächte und Gewalten und die ganze irdische Schöpfung sollen in den Lobgesang einstimmen: Das Trishagion (Dreimalheilig) wie es Jesajas (6.3) vor dem Thron des Allmächtigen hörte, soll niemals enden.
Das Manna vom Himmel und das Wasser aus dem Felsen standen im jüdischen Bewußtsein beispielhaft für die Wohltaten, die der Herr seinem Volk nicht nur während des Wüstenzuges, sondern im ganzen Ablauf seiner als Heilsgeschichte verstandenen Beziehung zu Israel. Die Kirche Hat im „Brot vom Himmel“ von den frühesten Zeiten an eine Vorausschau, einen Prototypen des Eucharistischen Brotes gesehen, der himmlischen Seelennahrung, die die Menschen auf ihrem Zuf durch die Wüsten des irdischen Jammertals särkt und ernährt.
Die beiden Hauptteile von Psalm 102 unterscheiden sich weniger im Inhalt, als im Grad der Allgemeinverbindlichkeit ihrer Aussagen. Der erste Teil beginnt ganz konkret mit den Wohltaten des Herrn, die der Beter an sich selbst erfahren hat: Alleine daß er er lebt und nicht – wie eigentlich verdient – bereits dem Untergang verfallen ist, hat er nicht eigenen Anstrengungen, sondern der Güte Gottes zu verdanken. Und bereits in diesen Versen (insbesondere 3), wird der Gedanke der Vergebung der Sünden angesprochen, dessen prophetischer Anklang nicht zu überhören ist: Diese Vergebung ist nicht Folge eines „Freikaufs“ des Sünders, der Gott wohlgefällige Opfer auf dem Altar des Tempels darbringt, sondern frei gewährte Gnadengabe Gottes. Damit überwindet der Blick des Psalmisten und mit ihm der des Beters die Zone der Finsternis und des Todesschattens (Benedictus, Lukas 1, 68ff), die die Alten gefangen hielt und schaut weit hinaus in die zukünftige Vollendung der Heilsgeschichte.
Weiter ausgeführt kann dieser prophetische Gedanke in der Zeit der Entstehung dieses Psalms – für die man wohl die Jahrzehnte nach der Rückkehr aus dem Exil annehmen muß – noch nicht. Statt dessen wendet sich der Blick vergangenen Stationen der Heilsgeschichte zu. Zunächst zurück in die Zeit des Wüstenzuges unter Mose, der „ersten Erlösung“, wenn man so sagen darf. In den Versen 8 – 10 ist dann möglicherweise die Erfahrung der „zweiten Erlösung“, der Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft aufgenommen und verarbeitet: Ja Gott handelt an uns nicht nach unseren Sünden! (Vers 8).
Während der erste Abschnitt so individuelle und kollektive Erfahrungen aufgreift, versucht sich der zweite Abschnitt in einer zwischen Anthropologie und Theologie schwankenden Erklärung, ja fast sogar Begründung, für dieses Göttliche Gnadenhandeln. Der Herr ist so hoch erhaben, seine Güte so unendlich, daß er nicht anders als ein gütiger Vater auf seine Geschöpfe herabschauen kann und will, die er aus dem Staub der Erde geformt hat und die in jeder Beziehung den Begrenzungen und Unvollkommenheiten dieser Herkunft verhaftet sind. Denn noch – so weit reicht die in diesen Versen so überreich wirkende Vorstellungskraft des Dichters denn doch nicht – noch ist der Herr selbst nicht als Messias und Menschensohn in seine Schöpfung eingegangen um sie aufs Neue zur göttlichen Höhe hinaufzuführen. Noch bleibt für den Dichter und den jüdischen Beter „nur“ Gottes wunderbares und unerklärliches Erbarmen.
Doch schon dieses erst begrenzt erfahrene und erfahrbare Erbarmen ist schon gewaltig genug, um den ganzen Kosmos Zum Einstimmen in den Lobgesang aufzufordern. Die ausführlichere – und vermutlich immer noch menschlich begrenzte und unvollständige Fassung – bietet dann der im 4. nachchristlichen Jahrhundert entstandene „ambrosianische Lobgesang“ des „Te Deum laudamus“.
Zwei Punkt sind dann noch wenigstens kurz zu erwähnen. Der erste ist die sprachliche Schwierigkeit in Vers 10 mit dem vermeintlichen Dementi des Tun-Ergehens-Zusammenhanges. Viele deutsche Übersetzungen – sowohl traditionelle katholische als auch die Einheitsübersetzungen – verwenden hier die Gegenwartsform „Gott handelt an uns nicht nach unseren Sünden“ und vermitteln damit zumindest tendenziell den Eindruck einer allgemeingültigen Aussage. Das Hebräische und auch die Vulgata verwenden hier ein grammatisches Perfekt – das kann man in dieser Tendenz verstehen, aber doch nur abgeschwächt: Der Blick auf die Vergangenheit ist deutlich stärker, und im Übrigen im Hebräischen und lateinischen auch wieder unterschiedlich. Die moderne jüdische Übersetzung von Naftali Herz hat sich hier jedenfalls für die Vergangenheitsform entschieden: Er tat nicht an uns nach unseren Sünden. Damit wird die Aussage historisiert und abgeschwächt – womöglich aus Rücksicht auf den Tun-Ergehens-Zusammenhang.
Wir stoßen hier auf ein ebenso großes wie allgemeines Problem aller Übersetzungen, insbesondere aber aus nicht indo-europäischen Sprachen: Die Vorstellungen vom Handeln und von den Abläufen in der Zeit sind oft ziemlich verschieden.
Im Prinzip bezeichnet das bibelhebräische Perfekt eine abgeschlossene Handlung: Gott hat einmal so gehandelt – das heißt aber nicht zwangsläufig, daß er immer so handeln wird. Die Septuaginta hat hier die (für uns) schwierige Zeitform des Aorist, die hinsichtlich des Grades an Abgeschlossenheit, den sie für eine Handlung annimmt, recht vieldeutig ist. Das lateinische Perfekt ist ebenfalls wenig eindeutig… In einem Wort: Wir wissen weder beim Hebräischen der Masoreten noch beim Text der Septuaginta-Tradition wirklich präzise, was gemeint ist – zumal die „alten Sprachen“ je nach Region und Jahrhundert in dieser Hinsicht durchaus nicht einheitlich vorgegangen sind. Hier hilft letztlich auch keine sprachgeschichtliche Fleißarbeit und keine noch so ausgefeilte „historisch-kritische“ Lektüre, sondern nur der Versuch einer Lektüre im Gesamtzusammenhang der überlieferten Schriften insgesamt, ihrer traditionellen Auslegung und der dienenden Beiträge moderner Wissenschaften von der Archäologie bis zur Textwissenschaft.
Ein zweiter Punkt kann hier ebenfalls nur knapp angerissen werden: In Psalm 102 erschienen wie als Vorausahnung schon zentrale Elemente des später im Neuen Testament grundgelegten christlichen Verständnisses von Schuld und Vergebung – genannt werden hier Markus 2,7 mit dem göttlichen Privileg der Sündenvergebung, das Magnifikat (Lukas 1,50) mit dem Hinweis, daß Gott sich aller erbarmt, die ihn fürchten und Jakobus 5, 11 mit der Formel: Der Herr ist voll Erbarmen und Mitleid.
In Psalm 102,13 heißt es, daß der Herr gegenüber den Gottesfürchtigen „wie ein Vater“ (13) handelt – und die Vorstellung vom Herrn und Gott Jahweh als „Vater“ ist dem Alten Testament sonst durchaus eher fremd. Im Buch der Psalmen scheint diese Vorstellung so nur an dieser einen Stelle auf. In den beiden anderen Versen, die vom göttlichen Vater (88, 27 ) beziehungsweise vom Vater des Menschensohnes (109, 3) sprechen, bezieht sich das ausdrücklich nicht auf die Menschen allgemein, sondern auf den König, der das Volk Gottes als Gottes „Erstgeborener“ leitet und regiert.
Psalm 102 enthält aber noch mehr Erstaunliches. Der Herr, der „wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt“, hat „seinen Thron aufgeschlagen im Himmel“ (19); Ihn zu loben, seinen Willen zu tun und so zu heiligen, ist Lebenszweck seiner ganzen Schöpfung (20 - 22). Die Entfernung und Differenz von Himmel und Erde sind angesprochen und gleichzeitig in gewissem Sinne überbrückt (11). Der „Vater im Himmel“ sättigt uns das ganze Leben lang mit Seinen täglichen Gaben (5) und vergibt uns unsere Schuld (3, 10, 12), wie auch wir Seinen Bund und Seine Gebote bewahren, und Er erlöst uns von allen Übeln (12). Selbst ein „und führe uns nicht in Versuchung“ kann man mithören, wenn Vers 14 gleichsam um Vorab-Absolution bittend die Schwäche der Menschennatur zum Argument macht.
Das Gebet des Herrn, das der Mensch gewordene Gottessohn ein halbes Jahrtausend später seine Jünger lehren sollte, erscheint hier schon vorgebildet: Vater unser, der Du bist im Himmel…
Letzte Bearbeitung: 17. April 2024
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