Benedic anima mea — Ps. CIII. (104)

Der Schöpfer macht die lebensfeindliche Urflut zum lebenden und lebensspendenden Ozean. Darin zahllose große und kleine Fische, darüber ebenso unzählig viele verschiedenartige Vögel.

„Da ist das Meer, so groß und weit, darin ein Gewimmel ohne Zahl.“ (103, 25)

Dieser Psalm ist unter den Lobliedern auf den guten Gott und seine Schöpfung das vielleicht eingängigste und jedenfalls in den Kirchen des Ostens und des Westens beliebteste Lied dieses Genres. Der Ablauf folgt im Groben dem des ersten Schöpfungsberichtes im Buch Genesis mit der Scheidung von Himmel und Erde, der Sammlung der Urflut und der Erschaffung von Pflanzen und Tier-Welt. Dann schließlich die Ausschmückung des Himmels mit den Leuchten für den Tag und schließlich dem Auftreten des Menschen. Dabei gibt es Abweichungen nach der zeitlichen Reihenfolge – die Tiere der Wildnis und des Feldes werden vom 6. Tag sehr weit nach vorne gezogen – und auch des Inhaltes selbst: Die Welt der geistigen Wesen, deren Bild hier schwankt zwischen dem von Naturgeistern (V. 3.) und „Gottesboten“ (d.h. Engeln, V. 4) wird hier gleich für den ersten Schöpfungstag in einiger Ausführlichkeit dargestellt – während sie in der Genesis unerwähnt bleibt. Und die rabbinischen Ausleger haben immer großen Wert auf die Feststellung gelegt, daß die Engelwelt jedenfalls nicht am ersten Tag geschaffen worden sei - vielleicht zur Abwehr der Israel stets bedrohenden polytheistischen Gedankenwelt seiner Nachbarvölker.

Ebenfalls ausführlicher als die Genesis, die nur von der Scheidung von Wasser und Festland spricht, geht das Lob von Psalm 103 auf Einzelheiten dieses Vorganges ein. Er erwähnt insbesondere die Gebirge, die sich auf Geheiß des Schöpfers aus der zuvor alles bedeckenden Urflut erhoben (8) und vermerkt in Vers 9 ausdrücklich: Du hast den Wasser eine Grenze gesetzt – nie wieder sollen sie die Erde bedecken. Das „nie wieder“ kann eine poetische Ausschmückung des ursprünglichen Schöpfungsaktes sein – es kann aber auch vorausweisen auf den (aller-)ersten Bundesschluss zwischen Jahweh und den noch nicht in Völker geschiedenen Menschen, als der Herr den Menschen feierlich versprach: Nicht noch einmal wird es eine Wasserflut geben, um die ganze Erde zu vernichten.

Nach diesem Bericht über die endgültige Zähmung der Urflut weitet sich der Blick des Dichters über das bloß Berichtsmäßige hinaus und nimmt einen mehr erzählenden Ton an: Er informiert nicht länger nur im Chronistenton darüber, daß der Herr Quellen und Bäche erschaffen hat – sondern er schildert auch überaus lebhaft, wie daraus weiteres Leben entspringt: Allen Tieren des Feldes spenden sie Trank, an den Ufern wachsen Bäume, die den Vögeln des Himmels Nistplätze bieten und deren Gesang aus den Zweigen erklingt. (11, 12) Und sie gehören zur Lebensgrundlage des Menschen, damit er Brot gewinnt von der Erde, und Wein, der sein Herz erfreut, sowie Öl, das sein Gesicht erglänzen läßt. (14, 15)

Im ersten Schöpfungsbericht der Genesis wird nach jedem Schöpfungstag einigermaßen lapidar berichtet, daß Gott sein Werk betrachtet und „sah, daß es gut war“. Wie gut es ist und warum, wird in diesen Abschnitten von Psalm 103 in vielen Farben ausgemalt. Das ist ganz große Dichtung und ein wahrhaft würdiges Dankgebet an den Schöpfer. Bemerkenswert ist die nachgerade „unterkühlte“ Art, in der der Mensch in diesem Schöpfungspanorama vorkommt. Seine Erschaffung wird nicht besonders erwähnt; er ist einfach „da“, wenn er in den Versen 14 und 15 – neben anderen Geschöpfen – als Nutznießer der Gaben Gottes erwähnt wird, und auch sein zweiter Auftritt in Vers 23 erscheint nicht besonders imposant: Eingebunden in den alles Leben bestimmenden Lauf der von Gott als Zeitmesser eingesetzten Gestirne geht der Mensch – nachdem die Löwen ihre Nachtschicht beendet haben – des Morgens an sein Tagewerk.

Aber da ist vielleicht doch noch mehr als nur der bereits in 14 erwähnte „Anbau von Pflanzen zur Nahrung“, in dem man einen Nachhall des Urteils „Im Schweiße Deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ (Genesis 3, 19) mithören kann . Der folgende Vers 24 erscheint zunächst wie eine eher unmotiviert eingestreute Unterbrechung des poetischen Berichts über die Wundertaten des Schöpfergottes durch ein Stoßgebet des Dankes und der Anbetung. Doch im Zusammenhang mit der Erwähnung des menschlichen Tagwerks kann dieses Stoßgebet auch den Inhalt dessen vor Augen stellen, was im menschlichen Tagwerk mindestens die gleiche Bedeutung hat wie die Arbeit zum Broterwerb: Gottesdienst und Verherrlichung des Schöpfers sind auch nach dem Verlust des Paradieses eigentliche Aufgabe und Pflicht der Menschen.

Bereits im zweiten Teil von Vers 24 kehrt der Psalm jedenfalls wieder zur Betrachtung der Schöpfungswunder zurück und holt die Tiere des Meeres nach, die dem Schöpfungsbericht nach bereits am 5. Tag (also vor den Tieren von Wald und Feld) fällig gewesen wären. Und wie schon in den Versen 15 und 16 ist auch hier wieder ein Seitenblick auf die Tätigkeit des Menschen eingewoben: Das Meer ist nicht nur Lebensraum für eine Vielzahl von Gottes Geschöpfen – es ist auch „Arbeitsraum“ für den Menschen, der es mit seinen Schiffen befährt. Auch die Tiere – Wildesel ebenso wie Löwen – leben von der Schöpfung, aber nur der Mensch ist in ihr tätig. Damit nimmt der Mensch in diesem Loblied auf die Schöpfung, in dem er zunächst geradezu vernachlässigt zu sein schien, doch eine hervorgehobene Stellung ein.

Und dann ist da noch der das Meer bewohnende Leviathan, ein eher übel beleumdetes Fabelwesen, das die altorientalischen Juden mit den Mythologien ihrer Nachbarvölker gemeinsam hatten. Gestalt und Charakter des Leviathan sind wechselhaft, mal ähnelt er einem Krokodil, mal einer vielfach gewundenen Schlange – das ist wohl die wörtliche Bedeutung des hebräischen „Livyatan“ aus dem masoretischen Text. Die Vulgata nennt das hier angesprochene Wesen „draco“ – wohl mit Blick auf den Drachen der Endzeit, der in der Offenbarung des Sehers Johannes auftaucht und dort als Verkörperung alles Bösen oder der Satan selbst erscheint.

Hinsichtlich des Daseinszweckes des furchterregenden Leviathan sind Septuaginta und Vulgata übereinstimmend der Meinung, daß der Herr ihn erschaffen habe, um „seiner zu spotten“. Um zu zeigen, daß Er größer und gewaltiger ist als dieses schreckliche Ungeheuer – und wohl auch im Nachklang des aus der altorientalischen Mythologie überkommenen Motivs, daß der gute Schöpfergott erst die drachenhafte Ausgeburt der Gottheit des Verderbens überwinden muß, um Raum für seine Schöpfung zu schaffen.

Die hebräische Version des Textes hat hier wieder einmal ein „schwieriges Wort“, dessen Bedeutung wohl zwischen „sich mit etwas belustigen“ und „sich über etwas belustigen“ schwankt. Die masoretischen Schriftgelehrten, die eine starke Abneigung gegen alle Überreste heidnischer Mythologien in der Torah hatten, entschieden sich für das Verständnis „mit etwas belustigen“, und die Einheitsübersetzung folgt ihnen mit der Version: „den Du geformt, um mit ihm zu spielen“. Um das theologisch abzusichern, erklügelten die Autoren des babylonischen Talmud die bemerkenswerte Theorie, daß der „Arbeitstag“ des Herrn in vier Abschnitte eingeteilt sei: In den ersten drei stunden studiere er die Torah, dann richte er (mache richtig) die Welt, und dann ernähre und erhalte er sie. Die letzten drei Stunden aber seien dem freien Spiel gewidmet… Nicht immer bieten die hebräischen Quellen den letzten Schluss der Weisheit.

Nach der trotz oder auch wegen des Leviathans eindrucksvollen Schilderung des Schöpfungspanoramas folgt der erste von drei Schlußabsätzen. Der erste (27 – 30) fasst noch einmal in beschreibendem Ton das Prinzip der Schöpfung als des Ausdrucks freien göttlichen Willens zusammen: Alles Geschaffene ist von Gott und seinem erhaltenden Willen abhängig, und nichts kann bestehen ohne die ständige Zuwendung des Geistes Gottes. Ein zweiter (31, 32) drückt im Wunschs- und Befehlston die Hoffnung und Erwartung aus, daß dieser Zustand der Schöpfung unter der Zuwendung Gottes ewig bestehen bleibe – zur Freude des Herrn selbst und in Ausübung seiner unbegrenzten Macht – die selbst den Vulkanen gebietet., die ebenso wie der Leviathan nichts anderes sind als Seine Geschöpfe. (32).

Dem folgt noch ein in persönlichem Ton gehaltener Nachsatz – von wem und wann er dem Lied zugefügt wurde, ist unbekannt. Er macht das im Psalm vorgetragene Gotteslob jedem Sänger und Beter zur eigenen Herzenssache und kann in diesem Sinne auch von jedem christlichen Beter von ganzem Herzen nachvollzogen werden. Nur in einem Punkt hat uns Christus zu mehr Geduld aufgefordert: Im Gleichnis vom Unkraut und dem Weizen (Mt 13,24-43) hat er klar ausgesprochen, daß der im alten Testament und auch den Psalmen immer wieder geäußerte Wunsch, die Sünder mögen von der Erde verschwinden und den Frommen alleine gehören, sich für diese Welt nicht erfüllen wird. Statt dessen hat er uns die Augen für die zukünftige Welt geöffnet, die dem Glauben der frommen Juden trotz gelegentlicher Andeutungen wie auch hier in Vers 30 noch weitgehend unzugänglich geblieben war.

Letzte Bearbeitung: 17. April 2024

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