Confitemini Domino — Ps. CIV. (105)
„Er hatte ihnen einen Mann vorausgesandt: Joseph war als Sklave verkauft worden.“ (104; 16)
Nachdem Psalm 103 die Schöpfungsgeschichte erzählt und ihren Sinn vor Augen gestellt hat, wendet sich Psalm 104 wieder der Heilsgeschichte des Volkes Israel zu. Im Mittelpunkt steht dabei die Geschichte Israels in Ägypten und die Verheißung des Herrn an Abraham, seinem Volk eine neue Heimat in Kanaan zu geben. Eingeleitet wird diese Erzählung mit einer ausführlichen Aufforderung an die Frommen (Verse 1 - 7), den Herrn für seine wunderbare Führung zu preisen – insoweit schließt er auch an den Charakter des vorhergehenden Lobliedes an.
Auf die Einleitung folgt eine genealogische und inhaltliche Verortung des Abrahamsbundes (Verse 8-15): Er wurde geschlossen mit Abraham, beschworen mit dessen wunderbar gezeugten und später der Opferung entgangenen Sohn Isaak und bindet seitdem in dessen Sohn Jakob/Israel alle Angehörigen des auserwählten Volkes. Zum Inhalt führt dieser Abschnitt zwei Punkte an: Einmal das Versprechen, den bis dahin als Nomaden die Region durchwandernden Söhnen Abrahams eine feste Heimat in Kanaan zu geben – wobei kein Zeitpunkt für die Erfüllung dieses Versprechens genannt und auch der Umstand, daß Kanaan keinesfalls unbesiedelter freier Raum war, nicht erwähnt wird. Das zweite Versprechen ist eine Art für die Vergangenheit in Erinnerung gerufene und für die Gegenwart bekräftigte Schutzgarantie: Solange Israel noch nicht in seiner Heimat angekommen ist, sollen keine Herrscher fremder Völker sie bedrängen. Nicht nur im vorderen Orient ist das erste Jahrtausend vor Christus eine Zeit dauernder Konflikte zwischen nomadisierenden Hirtenvölkern und sich um kleine Königreiche und befestigte Plätze scharenden Ackerbauern.
Die eigentliche „historische Abhandlung“ von Psalm 104 beginnt dann ab Vers 16 mit Jakobs Lieblingssohn Joseph, dem Träumer und Propheten, der, nachdem er von seinen eifersüchtigen Brüdern in die Sklaverei verkauft worden war, in Ägypten nach schweren Jahren zum Großwesir des Königs aufstieg und seiner Sippe, als die (wieder einmal, möchte man sagen) von einer Hungersnot betroffen war, eine Einladung nach Ägypten verschaffte. Dieser ganze Teil der Historie wird im Psalm in den Versen 16 – 23 eher kursorisch abgehandelt: Beter und Hörer kannten die in Genesis 37 – 50 breit dargelegte Geschichte zweifellos in allen Einzelheiten. Auch der Grund des Konfliktes, der schließlich zur Forderung des Mose „Let my people go!“ an den Pharao führte, wird in Vers 24 nur angedeutet: Die Einwanderer drohen, stärker als die Ägypter zu werden. Der Psalm konzentriert sich auf die auch im Buch Exodus breit dargestellten „politischen“ Gründe. Doch dort wird immerhin auch ein tieferer Grund sichtbar: Es geht um die rechte Gottesverehrung (z.B. Exodus 4, 23).
Teils durch Druck der Umgebung, teils aus eigener Schwäche, waren die Israeliten der Gefahr ausgesetzt, vom Glauben ihrer Väter (und dem Bund Abrahams) abzufallen. Diesen Bund erneuert der Herr gegenüber Mose (Exodus 3, 17), und er macht ihm das zusätzliche Versprechen, dem Pharao die Freigabe der Israeliten abzunötigen. Und damit kommt der Psalm endlich zu seinem zweiten Thema: Den mit sichtlicher Genugtuung aufgezählten Plagen (28 – 36), die der Herr über die Ägypter sendet, um sie zur Freigabe seines Volkes zu bewegen, und den anschließend mit ebenso großer Genugtuung aufgezählten Wohltaten, die er Israel gewährt (37 – 44). Der dankbare Jubel über diese Wohltaten bleibt zunächst ungetrübt – die Herausforderungen, Versuchungen und Katastrophen, die den Wüstenzug später begleiten sollten, werden mit keinem Wort auch nur angedeutet. Sie sind dann erst Gegenstand des folgenden Psalms105. Doch der letzte Vers von 104 läßt bereits erkennen, daß die Großzügigkeit Gottes nicht bedingungslos ist: All das gewährt der Herr Seinem Volk, damit es im eigenen, ihnen vom Herrn geschenkten Lande, Sein Gesetz einhalte und Seine Gebote befolge.
Von diesem Schlußvers her läßt sich das Hauptthema des Psalms klarer erkennen als aus den einzelnen Abschnitten: Die Bestimmung Israels und der Menschheit insgesamt ist es, dem Willen und Gesetz des Schöpfers zu entsprechen und ihn so nicht nur durch Gebet und Opfer, sondern durch ihr ganzes Sein zu verherrlichen.
Um das zu ermöglichen – fast könnte man auch sagen: um das zu erzwingen – greift der Schöpfer immer wieder souverän in seine Schöpfung und das Verhalten der Menschen ein. Er hat den Bund mit Seinem Volk geschlossen – quasi auf Leistung und Gegenleistung. Er „ruft den Hunger ins Land“, um die Voraussetzungen für das Wirken des ebenfalls von ihm gesandten und beauftragten Joseph zu schaffen. Ja, er „verführt“ die Ägypter sogar dazu, sich gegen Sein Volk zu wenden und durch die dann gegen sie verhängten Plagen seine Macht vor Freunden und Feinden zu offenbaren. Er schickt Hagel, vielerlei Plagen und frühen Tod über die Ägyptern – und dem Volk, mit dem er verbündet ist und das ihm vertraut, schickt er Wasser und Speise in die Wüste und „gibt ihm die Länder der Völker zum Besitz“. Das ist nicht nur „altes Testament“ – das greift weit zurück in die Welt vor der Verfestigung des Glaubens an den Einen Gott in das Zeitalter der miteinander im Streit liegenden Stämme und ihrer je eigenen Stammesgötter.
Es ist keine Geringschätzung der Schriften und Offenbarungen das Alten Testamentes, sich diese Spuren der Alten Welt in der Herausbildung der Neuen einzugestehen und bewußt zu machen: Erst in diesen Spuren wird erkennbar, wie weit der Weg war, den das Volk des Bundes zurücklegen mußte, bis „die Fülle der Zeit gekommen war“ (Galater 4,4) und der Herr selbst in Sein Volk hineingeboren wurde, um die bis dahin unvollständige und unvollkommene Offenbarung abzuschließen. Zur Vervollständigung dieser Offenbarung gehört auch, daß Gott die Zustimmung zu seinem Gesetz als freie Entscheidung erwartet, nicht als quasi unvermeidbare Reaktion auf Zwangsmaßnahmen, wie das im Tun-Ergehens-Zusammenhang oft anklingt. Und es ist ja nicht so, daß dieser Weg heute und überall erfolgreich gegangen würde – im Gegenteil. Zum Hochmut gegenüber dem Volk des Alten Bundes besteht von daher kein Anlaß. Eher schon zu der kritischen Frage, ob es wirklich geboten sein kann, den heutigen Angehörigen dieses Volkes gegenüber auf die Predigt dieser vollen Offenbarung zu verzichten.
Letzte Bearbeitung: 17. April 2024
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