Misericordiam et judicium — Ps. CV. (106)
„Sie liefen dem Baal von Pegor nach und aßen die Opfer der toten Götzen “(105; 28)
Psalm 105 hat wie der Vorgänger die Heilsgeschichte Israels zum Gegenstand, doch beleuchtet er diese Geschichte aus einem nachgerade entgegengesetzten Blickwinkel, so daß diese Geschichte fast als Unheilsgeschichte erscheint. Als Folge von Unglück und Katastrophen, die Israel aus eigener Schuld auf sich herabgerufen hat, indem es vom Gesetz Jahwehs abwich und seinem eigenen störrischen Willen folgte. Dabei beginnt 105 mit einer Einleitung (1 – 5) die in der Tonart, stellenweise aber auch bis in die Wortwahl hinein, der Einleitung zu Psalm 104 so ähnlich ist, daß man darin jedenfalls kein zufälliges Zusammentreffen sehen kann. Beide sind ein Aufruf zur Dankbarkeit und zum Lobe des Herrn für seine Wohltaten. Doch in den jeweils abschließenden Versen zeichnet sich bereits ein deutlicher Unterschied ab. In 104 war dieser Appell an die Volks- und Glaubensgemeinschaft des Beters gerichtet, der Gunst und Gnade des Herrn zu gedenken. In 105 erscheint er als persönliche Bitte des Beters an Gott, seinem Volk die offenbar verwirkte Gunst wieder zuzuwenden. Warum diese Gunst verloren gegangen ist, wird dann in einem langen Schuldbekenntnis (Verse 6 – 40) ausführlich dargelegt.
Der diesen Abschnitt einleitende Vers 6 schlägt in einer kurzen Formel den Ton des dann folgenden Bekenntnisses an: Zusammen mit den Vätern haben wir gesündigt, Unrecht getan und Bosheit verübt. Im Folgenden wird das dann ganz ähnlich wie im vorhergehenden Psalm in historischer Ordnung ausgeführt. Das beginnt mit dem offenkundigen Verlust des Gottvertrauens, den das Volk bei seinem Zögern vor der Flucht durch das Rote Meer offenbarte und zählt dann der Reihe nach all die Vorfälle auf, bei denen Israel beim Zug durch die Wüste den Glauben an seinen Gott vergaß, seine Verheißung in Zweifel zog und sich schließlich sogar fremden Göttern zuwandte. In jedem Fall folgt der Bekundung des Unglaubens die Strafe auf dem Fuß: Die Aufständischen der Rotte Korah werden von der Erde verschlungen (16 – 18), die Anbetung des Goldenen Kalbes wird mit einer schrecklichen Seuche geahndet (19 – 23), und der murrende Zweifel, ob sie jemals das gelobte Land erreichen würden, veranlaßt den Herrn zu einer Vernichtungsdrohung, die von Mose nur unter Aufbietung seines ganzen Verhandlungsgeschicks abgewendet werden kann (Numeri 14). Es folgt der sehr kurz geraffte Bericht über den Abfall großer Teile des Volkes zum Kult des Baal von Pegor, der den Herrn ebenfalls wieder zu zornigen Vernichtungsdrohungen reizte (Numeri 25), über die Meuterei an den Wassern von Meriba, die selbst Mose zum Zweifel brachte – all das Elend, das der vorausgehende Psalm 104 gnädig verschweigt, wird hier mitleidlos ausgebreitet.
Die Verse 34 – 40 bringen dann noch einmal eine zusammenfassende Übersicht des Sündenregisters, die bemerkenswerterweise nur die Ereignisse berücksichtigt, die mit dem Abfall zur Verehrung fremder Götter zusammenhängen – die Bekundungen mangelnden Gottvertrauens erscheinen demgegenüber offenbar weniger schwerwiegend. Das hat seinen verständlichen, wenn auch aus heutiger und nicht zuletzt durch die Botschaft Christi begründeter Sicht nicht mehr nachvollziehbaren Grund: Der Abfall zur Verehrung fremder Götter ist nicht allein die Absage an den einzigen wahren Gott Israels – er enthält auch die Gefahr, daß dieses Volk selbst untergeht, indem es sich in der Religion, den Sitten und Gebräuchen der heidnischen Nachbarvölker auflöst – womit die Heilsgeschichte Israels und der ganzen Welt ihr unerfülltes Ende fände. Die Mechanismen und Gefahren dieser Auflösung lassen sich aus den Berichten des Buches Numeri sehr gut erschließen, und als einziges Mittel, dem zu widerstehen, erscheint in der durchgängigen Sicht des Alten Testamentes bedingungslose Abgrenzung. Bis hin zum Völkermord in dem nach Vers 34 als göttlichen Befehl verstandenen Auftrag, die Heidenvölker auszurotten und so jede Gefahr ethnischer und religiöser Vermischung und Auflösung zu vermeiden. Die vese 34 – 39 zeichnen ein furchterregendes Bild der hier nicht zu Unrecht gesehenen Gefahren.
In der Praxis wurde bedingungslose Abgrenzung natürlich nicht nur auf Grund der realen Machtverhältnisse so nur selten gehandhabt. Zu „praktischer Koexistenz“ gab es auch in den kriegerischen Zeiten des frühen ersten vorchristlichen Jahrtausends – der Psalm selbst entstand freilich erst viel später – meist keine Alternative, und erst die Predigt Christi brachte hier die grundsätzliche Veränderung: Nicht mehr „grenzt euch bedingungslos ab,“ sondern „predigt ihnen das Evangelium“.
Ein Detail aus der Episode vom Abfall in den Kult des Baal von Pegor verdient insoweit noch besondere Beachtung, als es behilflich ist die schon mehrfach angesprochene Problematik der Begriffe „Gericht“ und „richten“ zu beleuchten. Vers 30 sagt hier nach der Einheitsübersetzung: Pinchas trat auf und hielt Gericht – so wurde die Strafe abgewandt.“ Nach dem Bericht in Numeri 25 war das jedoch kein Gericht mit Staatsanwalt, Verteidiger und Urteilsspruch, sondern Pinchas tötete einen Israeliten, der möglicherweise ganz legal im Zuge eines Verbrüderungsabkommens die Tochter eines midianitischen (baalgläubigen) Adligen zur Frau genommen hatte, mit dem Speer – und die Frau gleich mit. Ein „Gericht“ war das nicht – wohl aber die Wiederherstellung der „richtigen“ von Gott gewollten Ordnung, die von Israel verlangte, jegliche Vermischung mit Heidenvölkern zu vermeiden.
Die Übersetzung der Einheitsübersetzung mit „Gericht halten“ ist übrigens selbst sehr problematisch – das im Hebräischen stehende Wort ist schwer verständlich und wird auf sehr verschiedene Weise interpretiert. Die Tradition der Septuaginta/Vulgata hat hier „Sühne leisten“ und vermeidet so zumindest die im modernen Verständnis irreführende Gedankenverbindung mit „Gericht“.
Der Schluß des Psalm zieht aus alledem ein widersprüchliches Fazit. Immer wieder versucht der Herr, Israel zu retten, doch immer wieder widersetzt es sich seinem Bemühen und versinkt in Schuld und Sünde – die Strafe folgt auf dem Fuß. Die Verse 44 – 46 klingen so, als seien sie nach der Rückkehr aus dem Exil entstanden, und zumindest das große Elend der Verschleppung sei zu Ende und vergeben, doch die Schlußbitte von Vers 47 zeigt, daß die Einheit des Volkes noch nicht wieder hergestellt ist und Israel noch nicht im Stande ist, den Herrn so zu loben und zu verherrlichen, wie es seinem Auftrag entspricht. Die Bitte, das (wieder) zu ermöglichen, beschließt den letzten Vers.
Der folgende Vers (48) gehört nicht mehr zum eigentlichen Psalm, sondern bildet in Form einer Doxologie den traditionellen Kapitelschluß zum Ende des vierten Buches. Unter allen Doxologien des Buches der Psalmen ähnelt diese am meisten der Doxologie, mit der die Christen wohl seit den frühesten Zeiten ihre an den Herrn gerichteten Gebete abschließen; nur die Anrufung des „Gottes Israels“ ist ersetzt bzw. erweitert auf die Anrufung des dreifaltigen Gottes, es folgt die Bekräftigung der zeitlosen Ewigkeit Gottes und seiner Herrschaft und die Akklamation des Volkes: Amen.
Letzte Bearbeitung: 17. April 2024
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