Dilexi, quoniam exaudiet — Ps. CXIV. (116a)

„Ich will den Kelch des Heils erheben und anrufen den Namen des Herr“
Hier haben wir den gegenüber dem Vorhergehenden umgekehrten Fall: Wo die lateinische Tradition bei 113 zwei im hebräischen getrennte Psalmen zusammenfasste, hat sie bei #114 und #115 einen in der hebräischen Tradition zusammenstehenden Psalm in zwei Lieder getrennt. Nicht völlig grundlos, denn die beiden Teile sind bereits im Hebräischen durch eine auffällige Parallelbildung gegeneinander abgesetzt: der erste Teil (Verse 1 – 9) beginnt mit einem hervorgehobenen „Ich liebe“, der zweite (10 – 19) mit einem ebenso deutlichen „Ich glaube“. Moderne Erkläre haben daraus geschlossen, daß es sich um zwei Elemente eines liturgischen Ablaufs handeln könnte.
Die Textüberlieferung enthält in beiden Traditionen einige „schwierige Stellen“, für deren annäherungsweises Verständnis man auf traditionelle Auslegungen angewiesen ist. Unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet das nicht, denn die beiden Psalmen bzw. Psalmteile haben inhaltlich das Wesentliche gemeinsam: Es sind Lieder des Dankes für die Erretung aus einer Notlage. Welche Art von Notlage das ist, bleibt unausgesprochen. Einiges deutet besonders in 114 auf eine individuelle Notlage in einer Gefahr für Leib und Leben hin, während in 115 stärker allgemeine und gemeinschaftliche Aspekte zum Ausdruck kommen. Einen Widerspruch kann man daraus nicht ableiten, denn das Menschenbild der Juden in der vorchristlichen Zeit und noch weit darüber hinaus kannte keine so deutliche Abgrenzung zwischen Individuum, Familie, Stamm und Volk, wie sie sich dann unter griechischem und lateinischen Einfluß herausgebildet hat.
Letzte Bearbeitung: 18. April 2024
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