Beati immaculati — Ps. CXVIII. (119)

Moses kniet auf seinem Mantel auf der Spitze des Berges und empfängt vom Herrn die Gesetzestafeln. Der Herr selbst ist als „der Alte“ dargestellt und schwebt mitsamt den ihn umgebenden himmlischen Heerscharen auf einer Wolke.

„Du Hast Deine Befehle gegeben, damit man sie genau beachtet“ (118;4)

Der liturgische Gebrauch der Psalmen des großen Hallel, die mit dem Laubhüttenfest-Psalm 117 abgeschlossen werden, kann als weitgehend gesichert gelten. Ebenfalls eng mit dem Tempel, vielleicht auch direkt mit dem Laubhüttenfest, verbunden, ist eine kurz danach folgende weitere Reihe von Psalmen mit den Nummern 119 – 134 nach der Zählung der Vulgata. Dazwischen steht der von vielen Bre­vier­betern gefürchtete Psalm 118, der mit 176 Versen länger ist als die ganze fünfzehner-Reihe der ihm folgenden Tempelpsalmen zusammen. Psalm 118 ist einer der „alphabetischen“ Psal­men, von denen wir bereits einige kennengelernt haben (9/10, 25, 111, 112), und er nimmt unter ihnen nicht nur wegen seiner Länge eine Sonderstellung ein.

Psalm 118 hat 22 Strophen, für jeden Buchstaben des alten hebräischen Alphabets eine; jede Strophe hat 8 Verse, und auch diese beginnen sämtlich mit dem der Strophe ent­spre­chenden Buchstaben. Und als ob das nicht schon schwierig genug wäre, behandelt auch jede Strophe die gleichen sieben Grundbegriffe der alttestamentlichen Lehre vom Gesetz. Im deutschen und anderen europäischen Sprachen mehr oder weniger glücklich wiedergegeben mit Gesetz (lex), Zeugnis (testimonium), Weg (via), Gebot (mandatum), Verfügung (justificatio), Auftrag (noch einmal mandatum) und Urteil (judicium). Hier hat schon das Lateinische zweimal „mandatum“, aber auch im Hebräischen klingen einige der Begriffe sehr nahe verwandt. Ihnen philologisch genau nachspüren zu wollen, erscheint wenig zielführend und würde unsere Sprachkompetenz bei weitem übersteigen.

Bei diesem engen formalen Gerüst ist es verständlich, daß die einzelnen Strophen zum Teil inhaltlich kaum unterscheidbar und manche Zeilen auch nur schwer – wenn über­haupt – verständlich sind. Das müssen sie wohl auch gar nicht sein – seit alters her gilt Psalm 118 als eine zur Gedächtnisstütze mit Anlautreimen versehene Betrachtung oder gar Meditationsvorlage über „DAS GESETZ“. Für die Gestaltung dieser Meditation ist der Beter dann selbst zuständig, und mancher fromme Schriftgelehrte mag ein ganzes Leben damit verbracht haben, immer weiter in die dahinter verborgenen Tiefen einzudringen.

Da DAS GESETZ jedoch im Christentum bei weitem keine so zentrale Stellung einnimt wie im alten Testament und überdies in seiner Bedeutung zwar nicht „abgeschafft“, aber doch im doppelten Sinne „aufgehoben“ ist, ist eine solche Betrachtung für viele Heutige kaum nachvollziehbar – und wo das nicht gelingt, ist es sicher keine Katastrophe. Wer in Ehrerbietung vor dem Wort der Schrift auch Psalm 118 nicht gänzlich verwirft und überspringt, sondern immer wieder einmal zum Gegenstand seiner Bertrachtung macht und schließlich einige der dort verborgenen Impulse aufnehmen kann, hat schon gewonnen.

Und damit findet die Besprechung des längsten Liedes des Psalmenbuches hier auch schon ein überraschend kurzes Ende.

Letzte Bearbeitung: 18. April 2024

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