Domine probasti me — Ps. CXXXVIII. (139)
„Steige ich hinauf in den Himmel, so bist Du dort.“ (138; 8)
Wo dieses Motiv der Gottergebenheit in Psalm 137 eher angedeutet und vorbereitet als ausgeführt ist, wird es im folgenden Psalm 138 breit entfaltet. Und das in einer so bilderstarken poetischen Sprache, daß dieser Psalm alleine schon dazu hinreichte, dem Buch der Psalmen einen Platz unter den größten Werken der Weltliteratur zu sichern. Das gilt natürlich auch für die Verse 19 – 22, die von den schwachgläubigen und verzagten Liturgieverwaltern der Brevierreform aus dem Stundengebet der Kirche gestrichen worden sind. Doch ohne sie gerät der Psalm in Gefahr, nicht mehr zu sein als ein formvollendetes und erbauliches Gedicht, das nur von fern mit dem Leben in einer Welt zu tun hat, die weder formvollendet noch erbaulich ist. Selbstverständlich bedürfen auch diese anstößigen Verse einer nicht nur die sprachlieche Ebene betreffenden „Übersetzung“ in den Geist Christi. Wo die Kirche diese Mühe scheut, vergeht sie sich an eben diesem Geist und vergibt wie schon bei Psalm 136 eine große Gelegenheit, dem Geheimnis dieses Geistes näher zu kommen – für dessen Verkündigung schließlich Gott selbst Mensch geworden und am Kreuz gestorben ist.
Psalm 138 – im Hebräischen 139 – enthält im masoretischen Text diverse Unklarheiten und schwierige Stellen, von denen die Tradition der Septuaginta weitgehend frei ist. Ob die Septuaginta hier eine bessere Textgrundlage benutzt hat als die Masoreten – oder ob hier Übersetzer und Kommentatoren schon glättend am Werk waren, kann unsereins nicht entscheiden. Die Unterschiede sind auch nicht so gravierend, daß ein gemeinsames Verständnis ausgeschlossen wäre. Jedenfalls biete 138 eines von vielen Beispielen dafür, daß es wenig Sinn hat, prinzipiell vom Masoretentext als dem „Urtext“ zu sprechen und ihm in jedem Fall den Vorrang vor Septuaginta/Vulgata einzuräumen.
Der Psalm wird gemeinhin mit guten Gründen in vier Strophen zu je sechs Versen eingeteilt. Thema der ersten Strophe ist die Allgegenwart Gottes, und das nicht in einem abstrakten Sinne, sondern direkt bezogen auf den Beter und jeden anderen Menschen ebenso: Für jeden Menschen ist Gott stets gegenwärtig, alle sind in seiner Hand. Das wird zunächst einmal ohne Wertung oder Kommentar als Tatsache festgestellt, um dann in der zweiten Strophe unter dem Aspekt der Unentrinnbarkeit weiter verstärkt zu werden: Nichts, was der Mensch unternimmt, kann ihn vor dieser Gegenwart, dieser Kenntnis, und wie man vermuten darf auch vor dem Zugriff des Herrn frei machen.
Oder vielleicht doch? Bei Vers 8 gibt es einen interessanten Unterschied zwischen der hebräischen Standardversion und der Tradition der Septuaginta. Septuaginta und Vulgata schreiben übereinstimmend: Stiege ich selbst zur Unterwelt hinab – du wärest da. Im Hebräischen muß der Satz auf das Verb verzichten – da steht nur der Ausruf: Ach sieh an. Die Erklärer und Übersetzer ergänzen dann übereinstimmend genau so, wie es schon die Griechen und die Lateiner getan haben, mit einem Verb, das das Da-Sein Gottes auch an diesem Ort aussagt, und alles spricht dafür, daß der unvollständige Satz auch so gemeint ist – aber die Lücke im hebräischen Wortlaut bleibt unübersehbar.
Das hat möglicherweise einen nachvollziehbaren Grund: Die Unterwelt, Sheol, gilt dem Alten Testament gemeinhin als eine Zone, deren schattenhafte Bewohner keine Verbindung und keine Beziehung mehr zu Gott haben, Psalm 87 stellt in Vers 6 sogar ausdrücklich fest, daß Gott die Toten in der Unterwelt „vergisst“ und sie „seiner Hand entzogen“ sind; auch andere Psalmen enthalten ähnliche Aussagen. Vielleicht hat der Dichter selbst sich gescheut, dem geradewegs zu widersprechen; vielleicht hat auch ein späterer Redakteur hier einen Stein des Anstoßes gesehen und fürsorglich entfernt. Liturgieverbesserer hat es wohl zu allen Zeiten gegeben…
Weitere Steine des Anstoßes – diesmal sowohl für Juden als auch für Christen – enthält die dritte Strophe, die die örtliche Allgegenwart und Unentrinnbarkeit der göttlichen Präsenz um die zeitliche Dimension erweitert: „Du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter … meine Tage waren schon gebildet, als noch keiner von ihnen da war.“ Es fällt schwer, das anders zu lesen als eine Anerkennung des Person-Charakters der Ungebornen vom Tag der Empfängnis an, und wie die jüdischen Gläubigen, die in ihrer Mehrheit wohl ein mehr oder weniger eng begrenztes „Recht auf Abtreibung“ anerkennen, diese Haltung mit diesen Psalmversen vereinbaren, müssen sie selbst klären. Aus christlicher Sicht scheint es angesichts dieser überaus unzweideutigen Aussage kaum einen Interpretationsspielraum zu geben.
Tatsächlich biete diese Strophe u.E. ein gutes Anschauungsmaterial dafür, wo Interpretationsspielräume vorhanden sind und wo nicht. Mit der über vier Verse ausgebreiteten liebevollen Beschreibung des Werdens eines neuen Menschen im Mutterleib und der Vorausschau Gottes auf dessen kommenden Tage „als noch keiner von ihnen da war“, ist die Personalität des Embryos und dessen Kontinuität mit dem geborenen Kind überaus klar ausgesprochen. Andererseits kann man in den Versen auch einen gewissen Widerspruch finden, wenn in Vers 13 als Ort des Geschehens der Schoß der Mutter angesprochen wird, während in Vers 15 vom „Dunkel in den Tiefen der Erde“ die Rede ist. Der Widerspruch ist keiner: Soviel Freiheit für den poetischen Ausdruck muß schon sein, zumal nach dem ebenfalls in Bildern sprechenden Schöpfungsbericht Adam Erdensohn ja ebenfalls aus „Lehm“, d.h. aus der formbaren Materie der Erde geschaffen wurde.
Die letzten beiden Verse der dritten Strophe fassen noch einmal den Inhalt der vorausgehenden Strophen in einem Satz zusammen, der sowohl das Staunen über die Geheimnisse Gottes als auch die Bereitschaft zu deren Anerkennung – auch da, wo sie noch unbekannt sind – zum Ausdruck bringt: Wie gewaltig und unermeßlich sind Deine Gedanken (und Taten, muß man hier mitlesen), und könnte ich sie bis zum Ende ergründen, wäre ich immer noch bei/unter Dir.
Der kleinere zweite Teil des Psalms (V. 19 – 24) verläßt den Rahmen dieser Gedanken und geht dann in einer charakteristisch alt-testamentlichen Weise zu der Bitte, ja der Forderung an den Herrn über, er möge der soeben zum Ausdruck gebrachten Einsicht auch verbindlichen Nachdruck verleihen und die „Frevler“ die die Oberheit Gottes nicht anerkennen und den Frommen so viel Leid zufügen, aus der Welt schaffen. Die weitergehende Einsicht, daß der Herr die Anerkennung seiner Oberheit eben nicht durch unwiderstehlichen Zwang, sondern aus innerer Einsicht sehen will, und daß das den „Frommen“ widerfahrende Leid und der nicht endende Kampf gegen das Böse mit ihren Platz in seinem Plan haben, ist den Psalmendichtern vor der Vollendung der Offenbarung in Christus noch weitgehend unzugänglich.
Letzte Bearbeitung: 19. September 2024
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