Domine, clamavi ad te — Ps. CXL (141)

„Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor Dir auf“. (140; 2)
Die drei folgenden Psalmen 140 – 142 weisen neben den oben beschriebenen Gemeinsamkeiten der Psalmen dieses Reihe noch ein weiteres gemeinsames Kennzeichen auf: Alle drei beginnen mit der zwar sprachlich unterschiedlich formulierten, aber inhaltsgleichen Bitte: „Herr erhöre mein Gebet und laß’ mein Rufen zu Dir kommen“, die auch von den Christen seit früher Zeit als Einleitung für ihre Bittgebete übernommen worden ist. In Psalm 140 wird diese Bitte noch erweitert durch den Vergleich des Gebetes mit den Opfern auf dem Altar des Tempels.
In den Psalmen wird dieser Vergleich soweit uns gegenwärtig ist nur an dieser einen Stelle gezogen. Der darin ausgedrückte Gedanke war für die Christen jedoch so sehr überzeugend, daß sie ihn für das „Offerimus tibi“ der vorkonziliaren Opferungsgebete aufgriffen und die Verse 2 – 4 im Gebet zur Beräucherung des Altars im feierlichen Hochamt sogar wörtlich zitierten. Das unblutige Opfer des neuen Bundes knüpft somit unmittelbar an die auch im alten Bund schon vorbereiteten unblutigen Opferriten an – um dann in den Gebeten zur getrennten Konsekration von Brot und Wein, Leib und Blut des Herrn auch Bild und Gedanken des blutigen Opfers aufzunehmen und fortzuführen.
Mit der zweiten Strophe (ab Vers 3) wird der Text von Psalm 140 in allen Sprachversionen schwierig bis hin zur Unverständlichkeit. Noch einigermaßen nachvollziehbar ist die aus einer Minderheits- oder Randposition in der Gesellschaft heraus vorgetragene Bitte um die Kraft, dem gottlosen Reden und Tun der Mehrheitsgesellschaft widerstehen zu können (Vers 4) – heute ebenso aktuell wie vor zwei oder drei Jahrtausenden. Danach wird der Zusammenhang locker, und ergibt insbesondere in der griechischen und lateinischen Version kaum einen nachvollziehbaren Sinn. Die (vermutlich erst in der masoretischen Zeit lange nach der Zerstörung des Tempels entstandene) hebräisch Fassung bietet eine Deutung, die auch von den moderneren Übersetzungen in die westlichen Umgangssprachen bereitwillig übernommen worden ist: Der Gerechte wird auch den Tadel und das Urteil des Ungerechten annehmen und als Gnade begreifen, wenn dieser Tadel berechtigt ist. Gegen diese Deutung ist inhaltlich nichts einzuwenden – ob sie aber dem ursprünglichen Sinn der Textstelle entspricht, muß offen bleiben.
Ganz und gar dunkel bleibt der Bezug auf die „Richter/Anführer, die den Felsen hinuntergestürzt wurden“ aus dem ebenfalls schwer verständlichen und von vielen Problemen belasteten 2. Buch der Chronik (2 Chr 25, 12). Man kann nur ahnen, daß es um heftige Auseinandersetzungen vergleichbar mit einem Krieg auf Leben und Tod geht, und daß diese Auseinandersetzungen sich weniger auf bestimmte gegenwärtige oder historische Ereignisse, sondern auf die Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens in einer glaubensfeindlichen Umwelt beziehen. Die masoretische Version, die – man muß es immer wieder ins Gedächtnis rufen – mindestens 500 Jahre jünger ist als die Septuaginta, bietet auch hier eine etwas verständlichere Lesart, die daher in den meisten modernen Übersetzungen zu Grunde gelegt wird. Es gibt aber keinen überzeugenden Grund, diese Lesart als den „eigentlichen Urtext“ anzusehen, wie das weithin üblich ist. Sie bietet wohl eher das in hebräischer Sprache verfaßte Ergebnis einer Interpretation, deren Richtigkeit wir nach den heute vorliegenden Textzeugnissen in keiner Weise beurteilen können.
Erst mit den letzten 3 Versen (8 – 10) gewinnt der Psalm wieder ein wenig mehr Klarheit. Man kann in 8 das auch in den anderen Psalmen dieser Reihe vorkommende Vertrauensbekenntnis erkennen, das den Beter dazu ermutigt, seine von allen Seiten und auf allen Ebenen der Existenz bedrohte Situation nicht als ausweglos zu begreifen, sondern als Verhängnis, das durch das Eingreifen Gottes (und nur durch dieses!) zum Besseren gewendet werden kann und auch werden wird. Das Böse, in welcher Gestalt es auch auftritt, soll und wird nicht triumphieren!
Letzte Bearbeitung: 20. April 2024
*