Voce mea ad Dominum Clamavi — Ps. CXLI. (142)

David als Bittsteller vor dem Herrn an der Harfe

„Laut flehe ich zum Herrn um Gnade und schütte meine Klagen vor ihm aus.“ (141; 2)

Aus den – wenn unser Verständnis zutrifft – Erwägungen und Meditation über die mehr abstrakten Gefährdungen der menschlichen Situation in Psalm 140 führt Psalm 141 wieder in konkretere Gefahren zurück. So konkret, daß die hier beschriebene Situation traditionell als Gebet Davids in einer bestimmten historischen Episode verstanden wird: Auf der Flucht vor Saul hatte sich David mit seinen Getreuen in der Höhlenfestung von Engaddi verborgen und mußte schon befürchten, entdeckt und getötet zu werden, als eine unerwartete Wendung ihn nicht nur vor dem Tod bewahrte, sondern auch die Möglichkeit zu einem Versöhnungsversuch in die Hand spielte (1 Samuel 24).

Wie dem auch sei – jedenfalls wird die Situation des Beters in den ersten Versen als nachgerade ausweglos beschrieben, bis aus dem Vertrauensbekenntnis in Vers 6 und 7 die Gewissheit hervorgeht, daß der Herr auch diesmal das in ihn gesetzte Vertrauen des Beters erfüllen wird. Und wie an anderer Stelle auch wird in den letzten Versen der Gedanke ausgedrückt, daß diese Rettung nicht nur Ausdruck der persönlichen Vorliebe des Herrn für den von ihm zu Großem ausersehenen David war, sondern Ausdruck des Wesens Gottes, der Gutes tut, damit alle Wesen seine Güte erkennen, seinen Namen preisen – und dem folgen, den er mit seinen Wohltaten besonders auszeichnet.

Der Psalm bleibt somit nicht auf die von den jüdischen Erklärern angenommene historisch einmalige Situation Davids beschränkt. Darauf deutet übrigens auch Vers 8 hin, der mit dem „führe mich hinaus aus dem Kerker“ noch eine weitere Deutungs­mög­lichkeit anbietet: Die Situation eines jeden unschuldig Verfolgten, den die List und Lüge seiner Gegner ins Gefängnis gebracht hat. Die frühen christlichen Erklärer nahmen diese Ausweitung des Gesichtsfeldes zum Anlaß, die letzten Verse in einen noch weiteren Zusammenhang zu stellen. Es geht nicht nur um die Befreiung aus irgendeiner irdischen Notsituation, aus einem Gefängnis mit Mauern und Gittern, sondern um die Befreiung aus der Knechtschaft der Sünde insgesamt, die der Erlöser Jesus Christus für alle Menschen ins Werk gesetzt hat.

Für den christlichen Beter ist diese Ausweitung des Verständnisses berechtigt und wahr – als Extrapolation. Offen bleibt, ob man so weit gehen kann, darin eine von Anfang an dem Text inhärente prophetische Vorausschau oder gar Vorhersage dieses Erlösungs­handelns zu sehen. Aber vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Herangehens­weisen ja gar nicht so groß, wie er auf den ersten Blick erscheinen könnte.

Letzte Bearbeitung: 22. April 2024

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